Franz Schubert

(geb. Wien, 31. Januar 1797 – gest. Wien, 19. November 1828)

Divertissement à la hongroise, op. 54 (D 818)

orchestriert von Max Erdmannsdörfer und Franz Liszt

Zum Notentext

Die vorliegende Orchestrierung des op. 54, D 818, wurde von Franz Liszt begonnen, der den Mittelteil als Ungarischen Marsch zusammen mit drei anderen Märschen 1870 bei Fürstner in Berlin herausgab. Liszt hatte sich diese Werke zunächst zweihändig zurechtgelegt und so 1846 veröffentlicht. Das gesamte Divertissement ist als Mélodies hongroises d‘après Franz Schubert oder Schuberts Ungarische Melodien erschienen, S 425(a), bei Diabelli 1840 in erster, 1846 in zweiter Fassung.

Später, wie an der wesentlich höheren Plattennummer zu sehen ist, orchestrierte der Dirigent und Komponist Max Erdmannsdörfer (1848 – 1905) die Ecksätze, und in dieser komplettierten Form erschien der nachfolgende Notentext ebenfalls bei Fürstner. Erdmannsdörfer stand in Korrespondenz mit Liszt, hob dessen Hamlet 1876 aus der Taufe und war mit der Liszt-Schülerin Pauline Fichtner verheiratet.

Der Verlag erzwang keine vollständige Angleichung der beiden Bearbeitungen. Liszt notiert seine Hörner in Es und F, Erdmannsdörfer nur in F, Liszt kommt mit 2 Trompeten und 2 Pauken aus, Erdmannsdörfer braucht derer je 3, verzichtet jedoch auf die Große Trommel, die Liszt einsetzt.

Liszt greift, wie auch in seinen Liedbearbeitungen, erheblich in Schuberts Text ein. Er fügt Einleitung, Überleitung und ein ausführliches Finale hinzu, das den Marsch in triumphal-affirmatives C-Dur führt. Diese Dramaturgie ist bei einem Einzelstück, als das es Liszt ja behandelte, vertretbar, stört allerdings die Gesamtdramaturgie des Divertissements, die auf das c-Moll des Marsches das g-Moll des Finales folgen läßt, das erst ganz zum Schluß in ein zartes und leises G-Dur erlöst wird. Man kann erwägen, die Liszt‘schen Zutaten zu eliminieren, um stilistische Kohärenz mit dem Rest der Bearbeitung zu erreichen. Im Einzelnen sind dies:

- Vier Takte Einleitung, die nur den Rhythmus angeben, auffälligerweise aber auftaktig, während Schuberts Thema volltaktig ist. Liszts zweihändige Fassung war noch volltaktig.

- Vier Takte Trompetenüberleitung bei C zum Trio.

- Alles nach F fiele weg und würde durch die Wiederholung von Anfang bis C ersetzt.

- Schon die hinzuerfundenen Streichersextolen im B-Teil des Trios sind nicht schubertisch, sondern verdanken sich Liszts klavieristischem Bewegungsdrang, auch wenn die zweihändige Fassung an dieser Stelle noch origi nalkonform ist. Diese fügt hingegen beim Marsch-Dacapo ein Bewegungsmotiv im Baß hinzu, streut Virtuo - senflitter ein und hängt einen längeren, etwas banalen Schluß an.

Das Ungarische bei Schubert und Liszt

Die Orchestrierung ist so farbenprächtig, koloristisch geraten, daß heutige, für Stilreinheit empfindliche Ohren befremdet sein können. Die beiden Bearbeiter haben Schubert gewissermaßen zu einem ungarischen Landsmann Liszts gemacht und lassen das Stück wie eine veritable Ungarische Rhapsodie Liszts erscheinen, deren orchestrales Gewand im Vergleich zu den Klavierfassungen als grob oder derb wahrgenommen werden mag. Schubert wird hier um einige Jahrzehnte in die Zukunft projiziert und popularisiert. In der Rückschau erscheint die vierhändige Originalgestalt insofern wie eine filigrane Federzeichnung gegenüber einem bunten Schlachtengemälde. Die Leistung des Werkes bestünde bei Schubert dann darin, die aufgenommenen volksmusikalischen Elemente in den Habitus tendenziell abstrakter Kunstmusik überführt und integriert zu haben. Im Vergleich zu der uns heute unvermeidlich als Maßstab dienenden Klaviersonatenstrenge Beethovens wirkt freilich auch schon die vierhändige Version bloß unterhaltend und „zerstreuend“, eben als „Divertissement“.

Das Aufgreifen nationaler Charaktere in der Musik hat eine lange zurückreichende, im Barock schon sehr ausgeprägte Tradition. Sein Reiz besteht in der Integration des exotischen Materials in die musikalische „Standardsprache“ der Zeit und darin, „Anmutung“ zu erzeugen, aber nicht alles auszusprechen, d.h. so zu tun, als ob. Schubert ist bei seinem Aufenthalt in Ungarn 1824 vom fremden Melos umgeben und greift es auf. Laut der bekannten Anekdote hat er die nachmalige Ungarische Melodie von einer Küchenmagd bei Esterhazy gehört. In der Monochromie des Klaviersatzes werden die folkloristischen Elemente zugleich domestiziert und nobilitiert. Schubert schreibt stets universale Musik, spricht aber oft Dialekt, und in diesem Falle den ungarischen. Er wäre auch nicht Schubert, wenn er nicht die an sich offene Form des Divertimentos benutzte, seine eigentümlichen Obsessionen ins Werk zu setzen, die Schumann bekanntermaßen mit dem auf die 9. Symphonie gemünzten Begriff der „himmlichen Längen“ angesprochen hat. Das ungarische Divertimento hat nicht nur eine äußerlich beträchtliche Länge, die an eine große, dreisätzige Symphonie gemahnt, sondern weist auch den für Schubert typischen, insistiven und repetitiven Gestus auf, der außer die 9. Symphonie beispielsweise das Klaviertrio op. 100, das Streichquintett, die letzte Klaviersonate u.a. bestimmt.

An der offenbar vorab notierten „Ungarischen Melodie“ D 817, die das Material des Finales von D 818 bildet, hat Schubert die Möglichkeit parataktischen Reihung und mediantischer Harmonik gereizt. Vermutlich sah er in diesem zweihändigen Klavierstück, das Liszt später, ohne es zu kennen, in seiner zweihändigen Transkription des Divertissements gewissermaßen rekonstruierte, die Möglichkeiten des musikalischen Stoffes noch nicht ausgeschöpft und realisierte dann die Großform, die wir kennen. Das h-Moll der Ungarischen Melodie mußte dabei in Anpassung an die anderen Sätze zu g-Moll werden.

Die Orchestrierung

Daß die Orchestrierung weit über Schuberts Orchester hinausgeht, ihn also gewissermaßen mit einer Stimme sprechen läßt, die er bei Lebzeiten gar nicht hatte, ist unschwer zu sehen. Ebenso ist freilich zu sehen, daß die Klavierfassung bereits deutliche Orchestereffekte enthält, seien es Streichertremoli, Paukenwirbel, Violinsoli, ja sogar einen Blechbläserchoral (vor L). Erdmannsdörfer konnte sich auf vielerlei Anregungen des Originals stützen.

Bei der ästhetischen Beurteilung der Orchestrierung sollten also zwei Aspekte unterschieden werden. Der eine betrifft eine in vielen Werken Schuberts anzutreffende musikalische Faktur, die man eine „implizite Tendenz zum Orchestralen“ nennen könnte. Vieles von seiner Klaviermusik und klavierbegleiteten Lieder wirkt wie ein Klavierauszug und ist demzufolge auch - nachträglich - orchestriert worden. Schubert wußte um seine begrenzte (Lebens-)Zeit und beließ es sozusagen skizzenhaft bei kammermusikalischen Besetzungen, während die Haltung seiner Musik orchestral war. Der zweite Aspekt betrifft dann die Ausgestaltung einer Orchestrierung, die mehr oder weniger Schubert-nah ausfallen kann. Daß der Erlkönig orchestral gedacht ist, wird jeder Pianist, dessen linke Hand über dem dort wiederzugebenden Streichertremolo erlahmt, sofort bestätigen. Ob dann allerdings wie von Berlioz oder wie von Brahms orchestriert wird, zeigt Geschmacksdifferenzen auf. Brahms geht respektvoll-korrekt vor, Berlioz verschafft dem Komponisten eine monumentale, überlebensgroße Gestalt, die wir an ihm nicht gewöhnt sind.

Gleiches gilt für die hier vorliegende Orchestrierung. So auftrumpfend kennen wir unseren romantischen Chefmelancholiker nicht. Gleichwohl stecken genau diese großen Gesten in dem vierhändigen Stück, und man kann es sich auch nicht wesentlich anders instrumentiert denken, als in der Klanggestalt, die Liszt mit seinen Ungarischen Rhapsodien für das ungarische Idiom (wie auch immer musikhistorisch anfechtbar) entwickelt hat. Hier wird, um das obige Bild aufzugreifen, alles ausgesprochen und bleibt nichts angedeutet. Es ist Landschaft und Landleben im Breitwandformat.

Gerhard Bachleitner, 2012

Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Franz Schubert

(b. Vienna, 31 January 1797 – d. Vienna, 19 November 1828)

Divertissement à la hongroise, op. 54 (D 818)

Orchestrated by Max Erdmannsdörfer and Franz Liszt

The Musical Text

This orchestration of Schubert’s op. 54 was begun by Franz Liszt, who had the middle section, along with three other marches, published by Fürstner of Berlin as Hungarian March in 1870. Initially he arranged the piece for solo piano, in which form it appeared in print in 1846. The complete Divertissement was published by Diabelli as Mélodies hongroises d’après Franz Schubert or Schuberts Ungarische Melodien (S 425a), with a first version appearing in 1840 and a second in 1846.

Later, as we know from the much higher plate number, the outside movements were orchestrated by the conductor and composer Max Erdmannsdörfer (1848-1905). It was in this complete form that the musical text given below was issued in print, likewise by Fürstner. Erdmannsdörfer maintained a correspondence with Liszt, conducted the première of his Hamlet in 1876, and was married to Liszt’s former pupil Pauline Fichtner.

Fürstner made no attempt to completely standardize the two arrangements. Liszt wrote for horns in E-flat and F, Erdmannsdörfer only in F; Liszt makes do with two trumpets and two timpani, Erdmannsdörfer requires three of each while dispensing with the bass drum, which Liszt expressly calls for.

As in his arrangements of Schubert’s lieder, Liszt intervened massively in the original text. He added an introduction, a transition, and a lengthy finale that leads the march to a triumphantly affirmative C-major conclusion. Though perfectly acceptable in an isolated piece, as Liszt conceived his arrangement, it upsets the overall dramatic structure of the Divertissement, which has the C-minor march followed by a G-minor finale that only resolves into a soft and delicate G major at the very end. One possibility perhaps worth pursuing is to eliminate Liszt’s additions in order to achieve stylistic consistency with the rest of the arrangement. These additions are:

- A four-bar introduction that merely indicates the rhythm, noticeably an upbeat rhythm although Schubert’s theme opens on a downbeat (as does Liszt’s solo piano version).

- Four bars of trumpet transition to the trio at rehearsal letter C.

-Everything after rehearsal letter F was discarded and replaced with a repeat of the opening up to

rehearsal letter C.

- The added string sextuplets in the B section of the trio are not by Schubert. They owe their existence to Liszt’s pianistic panache, even though his solo piano version is faithful to Schubert’s original at this point. Schubert, in contrast, adds a propulsive motif in the bass in the da capo of the march, interpolates virtuosic snippets, and appends a lengthy and somewhat nondescript conclusion.

The Hungarian Ethos in Schubert and Liszt

The orchestration is so varied and coloristic that today’s listeners, accustomed as they are to stylistic purity, may find it disconcerting. The two arrangers have, as it were, turned Schubert into Liszt’s fellow countryman, transforming the piece veritably into a Lisztian Hungarian Rhapsody whose orchestral garb, compared to the piano version, may well seem coarse and uncouth. Here Schubert is projected several decades into the future and popularized. In retrospect, the original version for piano duet seems like a delicate pen-and-ink drawing alongside a garish nineteenth-century battle painting. Viewed in this light, Schubert’s achievement was to transmute and integrate the piece’s folk elements into the garb of abstract art music. That said, the duet version sounds merely entertaining and “diverting,” as befits a divertissement, when compared to the rigor of Beethoven’s piano sonatas, which serve unavoidably as today’s benchmark.

The adoption of national traits in music has a long history that was already highly evolved in the baroque era. Its charm resides in the integration of exotic material into the musical lingua franca of the time, thereby “suggesting” without explicitly “expressing” – in short, pretending. During his stay in Hungary in 1824 Schubert immersed himself in and assimilated the foreign melodies he heard around him. According to a well-known anecdote, he heard what would later become his Hungarian Melody sung by a scullery maid in Esterházy. The folk elements are at once domesticated and ennobled in his monochrome piano texture. Schubert, though he always wrote universal music, often spoke in dialect, in this case Hungarian. It was also in his nature to employ the open-ended form of the divertimento to indulge his personal obsessions, for which Schumann, in reference to the Great C-major Symphony, coined the well-known term “heavenly lengths.” Not only does the Hungarian Divertimento have a considerable duration, recalling a large-scale three-movement symphony, it also reveals Schubert’s typical insistent and repetitive gestures, which dominate not only the Great C-major but also the op. 100 Piano Trio, the String Quintet, and the final piano sonatas, to name only a few.

The evidently pre-existing Hungarian Melody (D 817) that provides the material of the finale of D 818 inspired Schubert to probe the possibility of paratactic concatenation and mediant key relationships. In this solo piano piece, which Liszt, without knowing it, later reconstructed so to speak in his solo transcription of the Divertissement, Schubert found unexploited potential and produced the large-scale form as we know it today, with the B minor of the Hungarian Melody yielding to the G minor of the other movements.

The Orchestration

That the orchestration goes far beyond Schubert’s orchestra, making him speak, as it were, with a voice not his own, is plain to see. Equally plain to see is that the piano version already contains obvious orchestral effects, including string tremolandos, timpani rolls, violin solos, and even a brass chorale (before rehearsal letter L). Erdmannsdörfer was thus able to draw on a wide range of hints in the original.

When assessing the artistic quality of the orchestration, two aspects should be borne in mind. The first is a musical fabric encountered in many of Schubert’s works, a fabric we might call an “implicit penchant for the orchestral.” Much of his piano music and many of his lieder with piano accompaniment sound like piano reductions and, accordingly, have later been orchestrated. Aware of the short lifespan allotted to him, Schubert left his music so to speak in sketch form, presenting it in chamber format although it was orchestral in bearing. The second aspect is whether the orchestration should turn out more or less Schubertian in character. Granted, any pianist whose left hand quails at the string tremolandos imitated in Der Erlkönig will readily attest that the piece was conceived in orchestral terms, but differences of taste will determine whether it is orchestrated in the Berliozian or the Brahmsian manner. Where Brahms proceeds with meticulous respect, Berlioz gives the composer a monumental, superhuman guise at odds with our received image.

Much the same can be said of the orchestration in our volume. Such brashness is not what we normally associate with Schubert, the melancholy romantic par excellence. Yet precisely these grand gestures lurk in the piano duet version; and we can hardly imagine an orchestration significantly different from the sound Liszt developed for the Hungarian idiom in his Hungarian Rhapsodies, however dubious it might be from the standpoint of music history. Here, to return to our earlier metaphor, everything is expressed and nothing is suggested. It is a landscape in wide-screen format, brimming with human activity.

Translation: Bradford Robinson

Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, Munich.