Peter Iljitsch Tschaikowsky

(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 - gest. St. Petersburg, 6. November 1893)

Schauspielmusiken

„Der falsche Dmitrij und Vasilij Šujskij“

von Aleksandr Nikolaevič Ostrovskij

„Der Barbier von Sevilla“

von Pierre de Beaumarchais

Vorwort

Schauspielmusiken haben einen schweren Stand im Konzertsaal. Losgelöst von der literarischen Vorlage, erschließen sich dem Zuhörer Form und Dramaturgie der Musik oftmals schwer, daher finden selten konzertante Aufführungen kompletter Bühnenmusiken statt. Einige Komponisten haben aus diesem Grund für den Konzertgebrauch das musikalische Material bearbeitet und zu Orchestersuiten zusammengestellt (z.B. Grieg, Sibelius), von anderen Komponisten werden gelegentlich Ausschnitte aus den Bühnenmusiken gespielt, um zumindest einen Teil der Musik zu „retten“ (z.B. Mendelssohn: Sommernachtstraum).
Tschaikowsky hat das Genre der Schauspielmusiken mit insgesamt neun Werken bedient, allerdings sind davon nur fünf überliefert. Zwei vollständige Bühnenmusiken existieren zu Sneguročka („Schneeflöckchen“) von Ostrovskij und Hamlet von Shakespeare (beide im Nachdruck bei mph erhältlich), zu den verbleibenden drei Werken (u.a. den beiden vorliegenden) gibt es nur einzelne Nummern.
Tschaikowskys Interesse an den Werken des russischen Dramatikers Aleksandr Nikolaevič Ostrovskij (1823-1886) war offensichtlich intensiv, die Bibliothek des Komponisten umfasste mehrere Bände seiner Werke. Über die rein literarischen Aspekte hinaus gab es möglicherweise auch biografische Affinitäten: Ostrovskij hatte, wie Tschaikowsky, eine abgebrochene Juristenlaufbahn hinter sich. 1864 vertonte Tschaikowsky sein erstes großes Orchesterwerk nach einer literarischen Vorlage Ostrovskijs, die Ouvertüre „Der Sturm“. 1866 äußert der Komponist in einem Brief an seinen Bruder Modest die Hoffnung, Ostrovskij möge selbst ein Opernlibretto zu dessen Vorlage „Der Vojvode“ schreiben. Das Projekt wurde auch realisiert, und im Rahmen dieses Kontaktes mag Ostovskij den Komponisten bewogen haben, zu seiner aktuellen Produktion „Dmitrij Samozvanec i Vasilij Šujskij“ („Der falsche Dmitrij und Vasilij Šujskij“), einer
„Dramatischen Chronik in zwei Teilen und sechs Szenen“, musikalisches Material beizusteuern. Überliefert sind zu diesem Stoff, der die Geschichte des falschen Zarensohns von Ivan IV zu Beginn des 17. Jahrhunderts behandelt, zwei Musiknummern: eine Introduktion zum ersten Akt und eine Mazurka, die in der 5. Szene des Dramas erklingt. Vor der Komposition hat sich Tschaikowsky inhaltlich mit „Dmitrij“ auseinandergesetzt, wie Eintragungen in die Sekundärliteratur aus Tschaikowskys Bibliothek belegen.
Die Musik zur Introduktion entstammt einer Arbeit aus Tschaikowskys Studentenzeit („Thema und Variationen“ für Klavier aus dem Jahr 1863/65, verarbeitet wurden das Thema und die erste Variation). Nähere Details zur Entstehung der Bühnenmusik finden sich allerdings nicht. Eine Klavierfassung der Mazurka trägt im Manuskript das Datum „15. Juni 1867“. Es darf aber angenommen werden, dass die Uraufführung der beiden Bühnenmusikstücke im Rahmen der Premiere des Schauspiels an der Wirkungsstätte Ostrovskijs, dem Malyj Theater in Moskau, am 30. Januar 1867 stattfand. Im Archiv dieses ältesten Dramentheaters Russlands finden sich die Orchesterstimmen beider Sätze mit intensiven Gebrauchsspuren und Bleistifteintragungen, die einen Hinweis auf mehrfache Verwendung geben. Beide Stücke sind für ein kleineres Bühnenorchester besetzt. Die vollständige Bühnenmusik wurde erst 1960 im Rahmen der Tschaikowsky-Gesamtausgabe veröffentlicht, die Introduktion war jedoch schon zuvor (1955) im Anhang einer Publikation von A. Glumov über das russische Dramentheater abgedruckt worden. Eine zweite für Klavier besorgte Fassung der Mazurka, die aber eine Umarbeitung darstellt und nicht identisch ist mit der oben genannten Klavierfassung von 1867, wurde als dritter Teil „Mazurka de Salon“ aus den Klavierstücken op. 9 im Jahr 1871 veröffentlicht.
Das zweite hier enthaltene, fast wie ein Anhang anmutende Werk ist mit gerade einmal 20 Takten sicher eine der kürzesten Kompositionen Tschaikowskys überhaupt. Es handelt sich um eine Einlage zu der Komödie „Der Barbier von Sevilla“ von Pierre de Beaumarchais. Tschaikowsky schrieb die für Tenor und zwei pizzicato spielende Violinen besetzte Miniatur für eine Studentenaufführung des Schauspiels am Moskauer Konservatorium, die am 12. Februar 1872 stattfand. Der Gesangstext stellt die russische Übersetzung der Couplets des Grafen Almaviva dar („Vous l’ordennez“). Auf Betreiben Sergej Taneevs, der auch eine Klaviertranskription besorgte, wurde das kurze Werk 1906 bei Jurgenson in Moskau erstmalig publiziert.
Die beiden hier vereinten Werke gehören – ohne dass damit zugleich eine qualitative Wertung verbunden ist – zu den Gelegenheitswerken des Komponisten und erfahren somit selten eine Konzertaufführung. Die rein orchestrale Ausführung der „Dmitrij“- Musik und die kurze Dauer der beiden Einzelsätze prädestinieren dieses Werk aber als „Lückenfüller“ für CD-Einspielungen - es existieren mehrere Aufnahmen, auch aktuellere (z.B. Gothenburger Symphonie Orchester unter Leitung von N. Järvi). Die Beaumarchais-Vertonung ist zur Zeit nicht auf CD erhältlich, doch mit etwas Glück findet man auf einschlägigen Video-Plattformen des Internets eine historische Aufnahme als Hörbeispiel eingestellt. Eine Suche, die sich lohnt!

Wolfgang Eggerking, 2011

Aufführungsmaterial ist von Muzyka, Moskau zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtischen

Bibliotheken, Leipzig.

Peter Ilych Tchaikovsky

(b. Votkinsk, 7 May 1840 – d. St. Petersburg, 6 November 1893)

Incidental Music

“Dmitry the Pretender and Vasily Shuisky”

by Alexander Nikolayevich Ostrovsky

The Barber of Seville

byPierre de Beaumarchais

Preface

Incidental music has a difficult time in the concert hall. Divorced from its original play, it is often difficult for listeners to grasp its form and dramatic structure. As a result, concert performances of complete scores of incidental music are a rarity. This has led several composers (such as Grieg and Sibelius) to arrange and compile their incidental music into orchestral suites for concert purposes. In other cases (e.g. Mendelssohn’s Midsummer Night’s Dream), excerpts are occasionally played in order to “salvage” at least part of the score.
Tchaikovsky wrote a total of nine sets of incidental music, of which, however, only five have survived. Two complete theater scores exist for Ostrovsky’s Snegurochka (“The Snow Maiden”) and Shakespeare’s Hamlet, both of which are available in study format from mph. Only isolated numbers exist of the other three works, including the two in our volume.
Tchaikovsky was evidently keenly interested in the writings of the Russian dramatist Alexander Nikolayevich Ostrovsky (1823-1886), for his library contained several volumes of his works. Besides the literary connection, the two men may also have had biographical parallels. Both Ostrovsky and Tchaikovsky abandoned the study of law. In 1864 Tchaikovsky patterned his first great orchestral work, the overture The Storm, on a literary model by Ostrovsky. Two years later, writing to his brother Modest, he hoped that Ostrovsky himself would write on opera libretto on his play The Voyevode. The project came to fruition, and it may have been while working on it that Ostrovsky persuaded the composer to add music to his current production Dmitry Samozvanets i Vasily Shuisky (“Dmitry the Pretender and Vasily Shuisky”), a “dramatic chronicle in two parts and six scenes” dealing with the early seventeenth-century story of the false son of Tsar Ivan IV. Two numbers related to this material have survived: an Introduction to Act I and a Mazurka heard in Scene 5. Before composing the music, Tchaikovsky made a thorough study of the material, as we know from the annotations he entered in his personal copies of the secondary literature.
The music of the Introduction is taken from a work of Tchaikovsky’s student years, Theme and Variations for piano (1863-65), of which he reworked the theme and the first variation. Nothing further is known about the origins of the incidental music. A piano version of the Mazurka is dated “15 June 1867” in the manuscript, but it is safe to assume that the two pieces were first heard on 30 January 1867, when the play was premièred at Ostrovsky’s base of operations, the Maly Theater in Moscow. The archive of this theater, the oldest dramatic theater in Russia, contains the orchestral parts for both pieces, with much wear-and-tear and penciled annotations indicating that they were used many times. Both pieces are scored for a fairly small pit orchestra. The complete incidental music did not reach print until 1960, when it
was published in the Tchaikovsky Complete Edition. Before then, however, the Introduction had been reproduced in an appendix to a book on Russian drama by A. Glumov (1955). A second piano version of the Mazurka, heavily recast and not identical to the above-mentioned version of 1867, was published as Part 3, Mazurka de Salon, of Tchaikovsky’s Piano Pieces, op. 9 (1871).
The second work in our volume seems almost like an afterthought, and its twenty bars make it surely one of Tchaikovsky’s shortest compositions altogether. It is an insert aria for Pierre de Beaumarchais’ comedy The Barber of Seville. This miniature for tenor and two pizzicato violins was written for a student production that took place at Moscow Conservatory on 12 February 1872. The vocal text is a Russian translation of Count Almaviva’s couplets (“Vous l’ordennez”). At the urging of Sergey Taneyev, who also provided a piano transcription, the little piece was published for the first time by Jurgenson of Moscow in 1906.
The two works combined in this volume number among the composer’s pièces d’occasion, though this says nothing about their quality. As a result, they are seldom heard in the concert hall. The purely orchestral nature of the music to Dmitry and the brevity of each movement make the work predestined to serve as “filler material” on CD recordings, of which several exist, including some of more recent vintage (e.g. the Gothenburg Symphony Orchestra conducted by N. Järvi). The Beaumarchais setting is currently unavailable on CD, but with any luck a historical recording can be found on the standard Internet platforms as a listening example. The search is worth the effort!

Translation: Bradford Robinson

For performance material please contact the publisher Muzyka, Moscow. Reprint of a copy from the Musikabteilung der

Leipziger Städtischen Bibliotheken, Leipzig.