Gustav Mahler
(geb. 7. Juli 1860 in Kaliště; gest. 18. MAai 1911 in Wien)

Blumine
Symphonischer Satz

Vorwort
Im Juni 1884 erhielt Gustav Mahler aus Kassel den Auftrag, Bühnenmusik zu sieben Tableaux vivants für Joseph Viktor von Steffels (1826-1886) Theaterstück Der Trompeter von Säkkingen zu schreiben. Später fand der Komponist die Musik zu sentimental und war damit derart unzufrieden, dass er einen Bekannten aufforderte, den Klavierauszug dieser Partitur zu vernichten. Da die einzige erhaltene Partitur 1944 bei der Bombardierung des Theaters in Kassel zerstört wurde, galt die Musik lange als verloren. Doch 1966 entdeckte der Mahler-Biograf Donald Mitchell (*1925) an der Yale University (USA) ein Manuskript, das die Antwort auf viele Fragen war und gleichzeitig neue Fragen aufwarf. Dieser heute als Blumine bekannte Andante-Satz in C-Dur ist ein rätselhaftes Stück Musik, welches eng mit der Entstehung der ersten Symphonie verbunden ist.

Zu Beginn des Jahres 1888 wurde Gustav Mahler Direktor der königlichen Oper in Budapest. Hier vollendete er die Komposition einer Symphonischen Dichtung in zwei Teilen und fünf Sätzen, die am 20. November 1889 uraufgeführt wurde. 1891 verliess er Budapest, um erster Kapellmeister am Hamburger Stadt-Theater zu werden. Im Januar 1893, mit der Aussicht auf eine zweite Aufführung, wurde das Werk überarbeitet und der Andante-Satz erst entfernt, dann wieder eingefügt und der ganzen Symphonie ein Programm beigefügt. Im Zuge dieser Revision erhielt der langsame Satz den Titel Blumine. In dieser Form wurde die gesamte Symphonie – nun mit dem an Jean Paul angelehnten Titel Titan, ein Tongedicht in Symphonieform - am 27. Oktober 1893 unter Mahlers Leitung aufgeführt. In der selben Gestalt wurde es auch noch im folgenden Jahr, am 3. Juni, in Weimar gespielt. Bei der vierten Aufführung des Werks am 16. März 1896 war der Blumine-Satz aus der nun wieder viersätzigen Symphonie verschwunden, und mit ihm der Titel ‚Titan’ sowie das Programm der Symphonie. Mahler nannte das Werk nun Symphonie in D-Dur für großes Orchester. In dieser viersätzigen Form wurde die Symphonie 1899 gedruckt. Danach galt Blumine lange Zeit als verloren, da die frühen Manuskripte verschollen waren. Über verschiedene Stationen gelangte eine Abschrift der Hamburger Version von 1893 in die USA, wo sie 1966 der Mahler-Forscher Donald Mitchell 1966 ausgrub und damit eine Entdeckung machte, die einen Kreis schloss.

Als Mitchell 1966 das Autograph an der Yale University einsehen konnte, fand er in den Noten ein Thema vor, das in der Mahler-Literatur als Erinnerung des Musikkritikers Max Steinitzer (1864-1936) überliefert war. Dieser hatte nämlich die ersten sechs Takte des Trompeter von Säckingen beschrieben, und Mitchell bemerkte die Kongruenz des überlieferten Themas mit den aufgespürten Noten. Da dieses Blumine-Autograph auf Notenpapier von kleinerem Format notiert war, als der Rest des Manuskripts der ersten Symphonie, kam er zu dem Schluss, dass der gesamte Satz der ursprünglichen Zwischenaktmusik, Werners Trompetenlied, von Mahler wohl unverändert in die Symphonie eingefügt worden war. Auch wenn dies wegen der fehlenden Originalpartitur nicht zu überprüfen ist, lässt sich doch sicher sagen, dass die Serenade mehr oder weniger oder sogar gänzlich unverändert zu Blumine wurde. Dies wird auch deutlich, wenn man die wesentlich kleinere Besetzung des Satzes mit dem Musikeraufgebot der Symphonie vergleicht.

Die wiedergefundene Musik wurde am 18. Juni 1967 beim Aldeburgh Festival unter der Leitung von Benjamin Britten das erste Mal im 20. Jahrhundert zu Gehör gebracht. Am 19. April 1968 führte des New Haven Symphony Orchestra unter der Leitung von Frank Brieff den «Titan» mit Blumine als eingefügtem zweiten Satz auf. Daraus entstand die bis heute andauernde Debatte, ob Mahlers erste Symphonie nun mit oder ohne den Satz gespielt werden solle. Als Kompromiss drängt sich eine Version auf, bei der Blumine im Anschluss an die Sinfonie gespielt wird, wie es auch häufig bei neueren Gesamtaufnahmen der Mahler-Sinfonien gehandhabt wird.

Noch immer unbeantwortet ist die Frage, warum Mahler den Satz aus der Symphonie entfernte. Ein pragmatischer Grund könnte die Länge des fünfsätzigen Werks gewesen sein. Die Bratschistin Natalie Bauer-Lechner (1858-1921), eine Vertraute Mahlers, nannte als Grund das Tonartenverhältnis, denn zwischen dem ersten Satz in der Tonika D-Dur und dem Scherzo in der Dominante A-Dur, wirkte das C-Dur von Blumine fremd. Der Dirigent Bruno Walter (1876-1962) erzählte, dass er von Mahler ein Musikstück geschenkt bekommen habe, das dieser für ‚ungenügend symphonisch’ hielt. Welcher Grund nun den Ausschlag gab, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Schliessen lässt sich daraus nur, dass Mahlers Meinung zu Blumine geteilt war. 1884 war er mit der Trompetenserenade zufrieden, 1886 fand er sie zu sentimental und wollte sie vernichtet haben, 1888 fügte er die Musik in die Symphonie ein und 1893 entfernte er sie wieder!
Unter dem Pseudonym Jean Paul schrieb Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825), nachweislich Gustav Mahlers Lieblingsautor, den Roman Titan, welcher der ersten Symphonie für einige Zeit den Namen gab, unter dem sie heute wieder bekannt ist. Das heute ungebräuchliche Wort ‚Blumine’ entnahm Mahler der dreibändigen Publikation Herbst-Blumine, oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften, die Jean Paul in den Jahren zwischen 1810 und 1820 veröffentlichte und mit dem Begriff „Blumine“ eine Blumensammlung meinte. Paul wiederum übernahm das Wort vom Sprachforscher Christian Heinrich Wolke (1741-1825), der sich für ein musterhaftes Hochdeutsch einsetzte und beispielsweise dafür plädierte, griechische und lateinische Götternamen einzudeutschen und für die römische Blütengöttin Flora den Vorschlag Blumine machte. In welcher Bedeutung Mahler selbst das Wort verstanden haben wollte, dazu äusserte sich der Komponist nicht.

Grobformal lässt sich Blumine auf die dreiteilige Liedform A-B-A’ zurückführen. Dem ersten Thema geht eine viertaktige Einleitung mit tremolierenden Streichern voraus, die die Szenerie ausbreitet, vor der das erste Thema in der Trompete erklingt. Dieses Thema ist unregelmässig aus einem viertaktigem Vorsatz und einem fünftaktigen Nachsatz gebaut und endet auf einem Halbschluss. Über zwei Takte hinweg modulieren die Harfe und die Holzbläser nach C-Dur zurück und übergeben an die Trompete für deren zweiten Einsatz. Sie beginnt mit dem gleichen Kopfmotiv wie beim ersten Thema, welches für den ganzen Satz von zentraler Bedeutung sein wird, spinnt dieses in der Folge jedoch anders weiter. Über die Doppeldominante wird in Takt 20 C-Dur als Quartsext-Vorhalt erreicht. Die Auflösung dieser Spannung wird über dem Orgelpunkt auf G in den Bässen chromatisch verschleiert und bis in den Takt 28 hinausgezögert. Sie löst sich über die Dominante nach C-Dur auf.

Eine zwölftaktige Überleitung führt in den B-Teil hinüber, der in der Paralleltonart a-Moll beginnt und danach in entlegene Tonarten moduliert. Dabei kombiniert Mahler ungewöhnliche Instrumentenpaare zu «Bicinien». So spielen ab Takt 71 die Kontrabässe im Duett mit der Oboe, danach kontrapunktieren die ersten Violinen die Melodie des Horns und ab Takt 93 spielen die Violoncelli im Kanon mit der Flöte. An dieser Stelle erreicht der Satz die entfernte Tonart Ges-Dur, die im Tritonus-Abstand zur Grundtonart steht. Wiederum dient der chromatisch verschleierte Quartsextakkord auf G als Überleitung.

Die Reprise des A-Teils ist verkürzt. Er beginnt wiederum mit der Trompeten-Melodie. Eine Wiederholung wie im ersten Teil gelingt der Melodie nicht mehr. Sie klingt noch einige Male an, bricht dann jedoch gleich wieder ab. In den hohen Streichern verliert sich die Musik und klingt mit drei Harfen-Akkorden aus.

Thomas Järmann (Zürich), 2011

Aufführungsmaterial ist von Theodore Presser, King of Prussia zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München

Gustav Mahler
(b. Kaliště, Bohemia, 7 July 1860 - d. Vienna, 18. May 1911)

Blumine
Symphonic Movement

Preface
In June 1884, Gustav Mahler received a commission from Kassel to write incidental music to seven tableaux vivants for Der Trompeter von Säckingen, a play by Joseph Viktor von Steffel (1826-1886). Later he found his music too sentimental and was so dissatisfied with it that he asked an acquaintance to destroy the piano reduction. As the only surviving score perished when the Kassel Theater was bombed in 1944, the music was long thought to be lost. But in 1966 the Mahler biographer Donald Mitchell (b. 1925) discovered a manuscript at Yale University that answered many questions while raising a few more. This andante movement in C major, known today as Blumine, is a puzzling piece of music closely associated with the gestation of Mahler’s First Symphony.

In early 1888, Mahler became the director of the Royal Opera in Budapest. Here he completed a symphonic poem in two sections and five movements that received its première on 20 November 1889. He left Budapest in 1891 to become principal conductor at the Hamburg Municipal Theater. In January 1893, with the prospect of a second performance, he revised the work, at first removing the andante movement only to reinstate it and attach a program to the entire symphony. It was in the course of this revision that the slow movement received the title Blumine. In this form, the entire symphony, now entitled (with a nod to Jean Paul) Titan: a Tone-Poem in Symphonic Form, was premièred under Mahler’s baton on 27 October 1893. It was performed in the same form the following year in Weimar, on 3 June. By the fourth performance, given on 16 March 1896, the Blumine movement had vanished from the now four-movement symphony, and with it the work’s program and its title, Titan. Mahler now called the work Symphony in D major for large orchestra. It was published in this four-movement form in 1899. Thereafter Blumine was long thought to be lost, as the early manuscripts had disappeared. By a circuitous route, a copyist’s manuscript of the 1893 Hamburg version arrived in the United States, where it was unearthed by Donald Mitchell in 1966 – a discovery that brought the work’s story full circle.

When Mitchell examined the autograph score at Yale in 1966, his eyes lit on a theme that had been handed down in the Mahler literature in the memoirs of the music critic Max Steinitzer (1864-1936). Steinitzer had described the first six bars of Der Trompeter von Säckingen, and Mitchell noticed the congruence between the surviving theme and the recently unearthed score. As the Blumine autograph was written on paper of a smaller size than the rest of the manuscript of the First Symphony, he concluded that Mahler must have inserted the entire movement of the original entr’acte, Werners Trompetenlied, unchanged into the score of the symphony. Given the absence of the original score, there is no way to verify this claim. Nevertheless, it is quite certain that the serenade was transformed into Blumine with few if any changes. This also becomes clear when we compare the much smaller scoring of the movement with the forces demanded for the symphony.

The rediscovered piece was given its first twentieth-century hearing by Benjamin Britten at the Aldeburgh Festival on 18 June 1967. On 19 April 1968, the New Haven Symphony Orchestra, conducted by Frank Brieff, performed Titan with Blumine reinserted as its second movement. This kindled a debate as to whether Mahler’s First should be performed with or without this movement – a debate that has persisted to the present day. As a compromise solution, Blumine is appended to the end of the symphony, as can often be heard on relatively recent complete recordings of Mahler’s symphonies.

The question remains why Mahler expunged the movement from his symphony in the first place. One practical reason might have been the length of the five-movement work. Mahler’s female confidante, the viola player Natalie Bauer-Lechner (1858-1921), saw the reason in the work’s key scheme, for the C-major of Blumine sounds alien between the tonic D major of the first movement and the dominant A major of the scherzo. The conductor Bruno Walter (1876-1962) recalled that Mahler presented him with a piece of music that he considered “insufficiently symphonic.” The actual reasons cannot be determined with any degree of certainty. All we can conclude is that Mahler had mixed feelings about Blumine. In 1884, he was satisfied with the trumpet serenade; in 1886, he found it too sentimental and wanted it destroyed; in 1888, he interpolated it into a symphony; and in 1893, he removed it yet again!

Johann Paul Friedrich Richter (1763-1825), who wrote under the pseudonym Jean Paul, is known to have been Mahler’s favorite author. It was he who wrote the novel Titan that briefly lent its name to the First Symphony – a name by which it is again known today. Mahler took the now obsolete German word “Blumine” from the three-volume collection Herbst-Blumine, oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften (“Autumnal Blossoms, or Collected Lesser Works from Periodicals”) that Jean Paul published between 1810 and 1820, intending it to refer to a collection of flowers. Jean Paul, for his part, took the word from the linguist Christian Heinrich Wolke (1741-1825), who championed the cause of an exemplary High German, arguing that the names of Greek and Roman gods and goddesses should be given German equivalents and suggesting the Roman goddess Flora should be renamed “Blumine.” Mahler himself never let it be known how he wanted the term to be understood.

In its formal outline, Blumine can be derived from the three-part arch form (A-B-A’). The first theme is preceded by a four-bar introduction of tremolando strings, establishing backdrop against which the trumpet states the first theme. This theme is irregularly constructed from a four-bar antecedent and a five-bar consequent and ends with a half cadence. For two bars, the harp and woodwind modulate back to C major, preparing the trumpet for its second entrance. It begins with the same head motif as in the first theme – a motif of central importance to the entire movement – but elaborates it in a different way. C major is reached in bar 20 via a secondary dominant in the form of a suspended second-inversion triad. The tension is resolved in the basses, chromatically veiled above a pedal point on G and prolonged to bar 28. It then resolves via the dominant to C major.

A twelve-bar transition leads to the B section, which opens in the relative minor (A minor) and proceeds to modulate to remote tonal areas. In the process, Mahler combines unusual pairs of instruments to create two-voice “bicinia.” For example, beginning in bar 71, the double basses play in duet with the oboe, after which the first violins provide a counterpoint to the horn melody, and beginning in bar 93 the cellos play in canon with the flute. At this point the movement reaches the distant key of G-flat major, a tritone removed from the tonic. Once again, a chromatically veiled second-inversion triad on G serves as a transition.

The recapitulation of the A section is abridged. It again opens with the trumpet melody, but the melody is not repeated as in the first section. It is restated a few times only to break off suddenly. The music vanishes in the high strings and ebbs away with three chords from the harp.

Translation: Bradford Robinson

For performance material please contact the publisher Theodore Presser, King of Prussia . Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.