August Reuß

(geb. Znaim im heutigen Tschechien, 6. März 1871 - gest. München, 18. Juni 1935)

Klavierkonzert g-Moll op. 48

(1924)
August Reuß ist einer der Komponisten, den die Geschichte vergessen hat. Wer seine Musik heute auf Konzertprogrammen oder gar Schallplattenaufnahmen sucht, wird so gut wie nichts finden. Aber schon zu Lebzeiten erhielt er 1926 einen Ein- trag in Alfred Einsteins Das neue Musiklexikon. Dort liest man: »Reuß ist wohl der bedeutendste aller Komponisten der
›Münchner Schule‹; von nachromantischer Beeinflussung, die sich besonders in üppiger Harmonik äußerte, hat er seine Musik immer mehr zu einer sensiblen, innerlichen und ausdrucksstarken Tonsprache geläutert.« Erst 1998 veröffentlichte Stephan Hörner einen ersten ausführlichen Artikel über ihn, erstellte ein Werkverzeichnis und schrieb auch 2001 bzw.
2005 die Beiträge über Reuß in den Musikenzyklopädien The New Grove und Die Musik in Geschichte und Gegenwart.
Reuß war kein Wunderkind, aber entstammte einer Familie, in der es Laienmusiker gab. 1879 siedelte er mit seinen Eltern nach Ingolstadt über, wo er nach dem Tod seines Vaters 1887 dessen Pferdebahnunternehmen weiterführte. Erst 1899, also mit 28 Jahren, begann er ein Musikstudium an der Münchner Akademie der Tonkunst bei Ludwig Thuille. Nach er- folgreichem Abschluss arbeitete Reuß zunächst 1906 als Kapellmeister in Augsburg, danach in Magdeburg. Nach einem weiteren Aufenthalt in Berlin ließ er sich 1909 für den Rest seines Lebens in München nieder. Bis zum Ersten Weltkrieg bezog er noch Einnahmen aus dem Familienbetrieb. Eine Anstellung in München fand er erst 1927 als Codirektor der von ihm mitbegründeten Trappschen Musikschule, dem Vorläufer des Richard-Strauss-Konservatoriums, wo er Theorie, Komposition, Instrumentation und Dirigieren unterrichtete. An dieser Privatmusikschule blieb er bis 1933. Schon 1929 wurde er zusätzlich als Professor für Komposition und Theorie an die Akademie der Tonkunst berufen und zum stellver- tretenden Vorsitzenden des Münchner Tonkünstler-Vereins ernannt. Aber schon ein Jahr später verschlechterte sich sein ohnehin labiler Gesundheitszustand (Asthma, chronische Bronchitis) durch eine Darmoperation, so daß er seiner Lehr- und Kompositionstätigkeit nur noch eingeschränkt nachgehen konnte und nach und nach verarmte. In seiner kurzen Phase als Komponist, die um 1900 begann und 1930 mit op. 61 endete, herrschen Klavier- und Orchesterlieder vor. Daneben schrieb er Kammermusik (eine Klaviersonate, zwei Streichquartette, ein Klavierquintett, ein Bläseroktett) und auch Wer- ke in großen Besetzungen, wie vier Symphonische Dichtungen, ein Opernlustspiel in drei Akten und 1924 sein einziges Klavierkonzert g-Moll op. 48, uraufgeführt im Oktober 1924 im Rahmen eines Orchesterkonzertes des Reichsverbandes deutscher Tonkünstler und Musiklehrer. Dieses Werk erschien 1930 in Partitur und 1934 als Klavierauszug, jeweils bei Tischler & Jagenberg in Köln.
Stilistisch prägend war für Reuß der Unterricht bei Thuille, der als Begründer der ›Münchner Schule‹ in die Musikge- schichte einging. Hierbei handelt es sich um Komponisten, die in München um 1900 tätig waren und die Thuilles Schü- lerkreis entsprangen. Dieser gehörte zu den fortschrittlichsten Komponisten Deutschlands und vereinte Stilistiken der
›Neudeutschen Schule‹ (Komponistenkreis um Franz Liszt, die auch Programmusik schrieben und außermusikalische Anregungen aus Weltliteratur und Bildender Kunst für ihre Werke zuließen) mit denen der ›Konservativen‹ (Robert Schumann, Johannes Brahms). Da Thuille aber undogmatisch unterrichtete, entwickelte sich jeder seiner Schüler anders, so daß Reuß selbst nicht von einer Münchner Schule, sondern von den Schülern Thuilles sprach.
Stand Reuß zu Anfang seiner Laufbahn in den Symphonischen Dichtungen noch im Schatten von Wagner, Liszt, Strauss und Pfitzner, so entwickelte er später vor allem in der Kammermusik und dort wiederum im Liedschaffen eine Einfachheit und Schlichtheit, die im Gegensatz zu der ausladenden Harmonik seiner Frühwerke steht. Einzig das dreisätzige Klavierkon- zert (I-II-III), sein letztes großbesetztes Werk, das von Hörner als »eine seiner eindrucksvollsten Schöpfungen überhaupt« bezeichnet wird, verweist auf seine frühen Kompositionen. Schon das erste Thema wird in vollen chromatisch angerei- cherten Akkorden mit zahlreichen Oktavverdopplungen nur vom Pianisten mit Begleitung einer Pauke gespielt. Auch im weiteren Verlauf des Satzes herrschen, wie auch im dritten Satz, vollgriffige Akkorde in Sequenzierungen, Dreiklangsbre- chungen und Oktaven vor, die die Klangmasse eines Flügels zur Geltung bringen und dem Werk einen wuchtigen Cha- rakter geben. Thematische Bezüge der Sätze untereinander stellt Reuß her, indem er das erste Thema des Kopfsatzes und auch noch einen längeren Passus aus dem zweiten Satz (T. 49-56) jeweils im Schlußsatz aufgreift (T. 162 und 106-113). Mit seiner spätromantischen Sprache sah er sich als ›Konservativer‹ im Gegensatz zu aktuellen deutschen Musiktenden- zen der zwanziger Jahre wie die Entwicklung der Zwölftontechnik um Arnold Schönberg, die Neue Sachlichkeit um Paul Hindemith oder die Einbeziehung von neuartigen Rhythmen aus dem Jazz bei Ernst Krenek oder Erwin Schulhoff.

Jörg Jewanski, 2012

Aufführungsmaterial erhalten Sie bei Leuckart, München. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Ernst Lumpe, Soest.

August Reuss

(b. Znaim [now Znojmo, Czech Republic], 6 March 1871 – d. Munich, 18 June 1935)

Piano Concerto in G minor, op. 48

(1924)
August Reuss is a composer lost to history. Anyone looking for his music on today’s concert programs or recordings will find practically nothing. But in his day he had an entry in Alfred Einstein’s Das neue Musiklexikon of 1926, where we can read: “Reuss is perhaps the most important composer of the ‘Munich School.’ Influenced by post-romanticism, especially in his luxuriant harmony, he has increasingly refined his music into a sensitive, intimate, and highly expressive tonal language.” It was not until 1998 that Stephan Hörner published the first detailed article on Reuss and produced a thematic catalogue of his music. He also wrote the entries on Reuss for The New Grove (2001) and Die Musik in Geschichte und Gegenwart (2005).
Reuss was not a child prodigy, but he came from a family with amateur musicians among its members. In 1879 he moved with his parents to Ingolstadt, where, after his father’s death in 1887, he took over the family’s horse tramway business. It was not until 1899, when he was twenty-eight years old, that he began to study music with Ludwig Thuille at the Munich Academy of Music. Having completed his degree, he first worked as a conductor in Augsburg (1906) and later in Magde- burg. In 1909, following a tenure in Berlin, he settled in Munich for the rest of his life, continuing to draw income from the family business until World War I. It was only in 1927 that he received an appointment in Munich, when he became co-founder and co-director of the Trapp School of Music, the predecessor of today’s Richard Strauss Conservatory. There he taught theory, composition, orchestration, and conducting, remaining at this private music school until 1933. As early as 1929 he was also appointed professor of composition and theory at the Academy of Music and deputy director of the Munich Musicians’ Society. A year later his health, already weakened by asthma and chronic bronchitis, deteriorated after an intestinal operation, and he was forced to cut back on his teaching and composition, gradually sinking into penury. His brief period of creative activity, beginning in 1900 and ending with his op. 61 in 1930, was dominated by lieder with piano or orchestral accompaniment. He also wrote chamber music (a piano sonata, two string quartets, a piano quintet, a wind octet) and works for larger forces, including four symphonic poems, a three-act comic opera, and, in 1924, his first and only Piano Concerto in G minor, op. 48. It was premièred at an orchestral concert of the Reich Association of German Musicians and Music Teachers in October 1924 and published in score (1930) and piano reduction (1934) by Tischler & Jagenberg, Cologne.
Reuss’s style bears the imprint of his studies with Thuille, who has entered music history as the founder of the “Munich School,” a group of composers active in Munich around 1900 who proceeded from Thuille’s circle of students. They were among Germany’s most progressive composers, combining stylistic features from the “Conservatives” (Schumann and Brahms) with those of the “New German School,” meaning those musicians associated with Franz Liszt who also wrote program music and drew extra-musical inspiration from world literature and the visual arts. Thuille was not a dogmatic teacher, however, and each student developed in a different way. Reuss himself never spoke of a Munich School, but only of Thuille’s students.
If Reuss’s symphonic poems were still overshadowed by Wagner, Liszt, Strauss, and Pfitzner at the beginning of his career, he later, especially in his chamber music and lieder, developed a straightforward, unadorned style almost dia- metrically opposed to the expansive harmonies of his early works. Only the three-movement Piano Concerto, his final piece for large forces and a work described by Hörner as “one of his most impressive creations altogether,” has echoes from this early period. The opening theme is stated by the pianist with chromatically enriched chords abounding in octave doublings and accompanied only by a kettledrum. As the piece progresses, the music is dominated by full-voiced chords in sequences, arpeggios, and octaves that display the massive sound of the modern instrument to full advantage, espe- cially in the third movement, and give the work a monumental aura. Reuss links the movements thematically by quoting the opening theme of the first movement and lengthy passages from the second (mm. 49-56) in the finale (mm. 162 and
106-13). With his late-romantic idiom, Reuss viewed himself as a “conservative” in contrast to the latest musical trends of Weimar Germany, such as Schoenberg’s dodecaphonic method, Hindemith’s New Sobriety, or the adoption of the novel rhythms of jazz by Ernst Krenek and Erwin Schulhoff.

Translation: Bradford Robinson

For performance material please contact Leuckart, München. Reprint of a copy from the collection Ernst Lumpe, Soest.