Peter Iljitsch Tschaikowsky
(geb. Votkinsk, 7. Mai 1840 - gest. St. Petersburg, 6. November 1893)
Hamlet
Bühnenmusik zu Shakespeares Drama
op.67a
Vorwort
1876 dachte Peter Iljitsch Tschaikowsky zum ersten Mal daran, Musik zu Wiliam Shakespeares Schauspiel Hamlet zu komponieren. In der folgenden Dekade arbeitete er langsam an dieser Idee, bis ihn im Jahre 1888 sein Freund, der Schauspieler Lucien Guitry bat, eine Overtüre und einige Zwischenaktmusiken für eine Aufführung des Dramas zu schreiben. Tschaikowsky machte sich an die Arbeit und bezog sich auf eine französische Ausgabe, für deren Übersetzung und Revision Alexandre Dumas der Ältere und Paul Meurice verantwortlich zeichneten.
Obwohl Guitrys Auffühung nicht wie geplant stattfand, führte dieser Auftrag zu Tschaikowskys Konzertouvertüre Hamlet (Opus 67a), die der Komponist Edward Grieg widmete. Die Premiere der Ouvertüre fand in St. Petersburg am 12. November 1888 statt und erhielt sehr gemischte Kritiken; allseits bekannt ist, das Balakirew das Werk nie mochte, und so schrieb er in seine eigene Partitur: “Hamlet macht Ophelia Komplimente und überreicht ihr eine Eiskrem!” 1891 bat Guitry erneut um Musik, diesmal anlässlich der Abschiedsbenefizvorstellung von Hamlet. Für diese Aufführung revidierte und dünnte seine Konzertouvertüre aus, fügte weitere 16 Nummern hinzu, so dass jenes Werk entstand, dass in dieser Ausgabe veröffentlicht wird (Bühnenmusik, op. 67b). Die neue Overtüre enthält viele der alten Themen, nur in verkürzter Form. Auch der formale Aufbau ist unkonventionell, richtet er sich doch eher an den Anforderungen einer dramatischen Erzählung aus denn an denen einer autonomen musikalischen Form. Die Funktion der Ouvertüre besteht darin, die geeignete Atmosphäre für das folgende Drama zu erzeugen, und sie vollbringt dies sehr wirkungsvoll, insbesondere durch die Gegenüberstellung des eröffnenden “lento lugubre” - Themas (assoziert mit der Titelfigur) mit dem bereits erwähnten lyrischen Thema für die Oboe (assoziiert mit Ophelia).
Die einzelnen Nummern ergeben eine gemischte Sammlung dramatischer Stücke, darunter je vier Fanfaren, Vorspiele und Melodramen sowie drei Lieder und ein Marsch - Finale. Um das dramatische Moment des Stückes zu stützen, variiert die Länge der einzelnen Kompositionen je nach Kontext und Funktion: die kürzesten sind funktionale Fanfaren von weniger als zehn Takten, bei den längsten handelt es sich um die Vorspiele der einzelnen Akte, wobei die Musik zum vierten Akt mit nahezu acht Minuten die längste ist. Wie Roland Wiley betont, bedient sich Tschaikowsky bei einigen der Vorspiele bei seinen früheren Werken: Das Vorspiel von Akt II (Nr.5) stammt aus dem “Alla tedesca” seiner Dritten Symphonie; das Vorspiel zu Akt III (Nr. 7) erschien ursprünglich als Nr. 10 “Kupawas Klage” aus Schneeflöckchen; und die Elegie zum Gedenken an von I.W. Samarin erklingt vor Akt IV. Am interessantesten jedoch sind die Lieder und Melodramen.
Die ersten beiden Melodramen beziehen sich auf die Erscheinung des Geistes im ersten Akt und enthalten Verweise auf die Ouvertüre, insbesondere an das viertaktige Thema in den hohen Streichern, das die Ouvertüre eröffnet (Beispiel 1). Beim ersten Erscheinen des Geistes wird das Thema von den Posaunen vorgetragen und begleitet von gehaltenen Noten der Holzbläser und tremolierenden Streichern, was einen sehr abschreckenden Effekt erzeugt. Beim zweiten Erscheinen kehrt das Thema in den Holzbläsern wieder und vereint die beiden Melodramen (Nr. 1 und 3) thematisch wie auch durch die gemeinsame Tonart d - Moll.
Beispiel 1
Die nächsten beiden Melodramen (Nr. 4 und 8) sind länger und traditioneller gehalten, indem sie den gesprochenen Dialog begleiten. Beide beziehen sich auf die Beschreibung der Vergiftung von Hamlets Vater, beide stehen in c - Moll, haben eine gemeinsame Melodie in den Fagotten und eine durchlaufende Streicher- Begleitfigur in Achteln (Beispiel 2).
Beispiel 2
Die beiden Lieder zu Ophelias Wahnsinns - Szene (Nr. 10 und 11) drücken kraftvoll die Spannung zwischen der süssen Trennungsnostalgia und der selbstzerstörerischen Depression der Figur aus. Dies erreicht Tschaikowsky hauptsächlich dadurch, dass er Ophelias volkstümliche Melodie (sie erinnert an eine von John Gay ausgeliehene Weisen) in einem dunklen Mollkontext vertont. Der Unterton von Tschaikowskys Musik ist verstörend, insbesondere am Ende des ersten Liedes, wenn Ophelia singt: “Schöner, angebeteter Engel, werde ich dich heiraten? Du sprachst sarkastisch - Ja, aber gerade zwischen uns, der Liebhaber und der Ehegatte sind zu erschreckend, mein Geliebter.” Interessanterweise wird in Nr. 13 “Chant du Fossojeur” die Spannung umgekehrt, indem der schwarze Humor der Totengräber in sehr heller und optimistischer Manier gesetzt wird und sogar durch seine strophische Melodie vom traditionellen walisischen Volkslied Nos Galan zehrt.
Letztlich aber ist einer der wesentlichen Gründe dafür, dass Tschaikowskys Partitur so selten aufgeführt wird, die schlichte Tatsache, dass sie so wenig Musik enthält, und vieles davon nur entliehen ist. Man vergleiche hierzu Schostakowitschs Version mit über 25 Nummern. Die wenigen Nummern und die entlehnten Zwischenaktmusiken von Tschaikowskys Komposition rechtfertigen kaum die Kosten eines gesamten Orchesters für eine Aufführung von Hamlet. Es sind lediglich die Lieder mit ihrem raffinierten Orchestersatz und die Verwendung bereits existierender Themen, die das Werk am Rande des Repertoires als Konzertstück halten. Das ist sehr schade, handelt es sich bei diesem Werk doch um eine kraftvolle Komposition, die die dramatische Wucht von Shakespeares Meisterwerk unterstreicht. Man könnte sich vorstellen, das das Stück in einem geeigneten Kontext - vielleicht einer Universität oder Schule mit einer starken Theatergruppe und Musikprogramm - ein geeignetes Umfeld für weitere Aufführungen finden könnte.
Joseph E. Morgan, 2011
Aufführungsmaterial ist von der Muzyka, Moskau zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig..
Roland John Wiley, Tchaikovsky, London: Oxford University Press, 2009
David Brown, Tchaikovsky: the man and his music, New York: Pegasus Books, 2007.
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Peter Ilyich Tchaikovsky
(b. Votkinsk, 7 May 1840; d. St. Petersburg, 6 November 1893)
Hamlet
Incidental music to Shakespeare’s play
op. 67a
Preface
In 1876 Pyotr Il’yich Tchaikovsky first considered composing music for William Shakespeare’s Hamlet. In the decade that followed, Tchaikovsky worked slowly on the idea until 1888 when his friend, the actor Lucien Guitry, asked him to compose an overture and some entr’actes for a performance of the play. Tchaikovsky began work, using a French edition translated and revised by Alexandre Dumas père and Paul Meurice.
Although Guitry’s performance was not held as planned, the commission resulted in Tchaikovsky’s concert overture Hamlet (Opus 67a) which he dedicated to Edward Grieg. The premiere of the concert overture (St. Petersburgh, November 12, 1888) received mixed reviews; Balakirev famously never liked the work, writing in his own score “Hamlet pays compliments to Ophelia, handing her an ice-cream!” In 1891, Guitry made the request again, this time for a farewell benefit performance of Hamlet. It was for this performance that Tchaikovsky revised and reduced the concert overture and added the 16 additional numbers that make up the work in this score (Incidental Music, Opus 67b). The new overture contains many of the same themes, only abbreviated. Its formal organization is also unconventional, adhering more to the organization of the dramatic narrative than to an autonomous musical form. The function of the overture is to set the mood for the following drama, and Tchaikovsky’s piece does so effectively, particularly in the contrast between the opening “lento lugubre” theme (associated with the title character) and the previously mentioned lyrical theme for the oboe (associated with Ophelia).
Of the individual numbers, they make up a varied collection of dramatic pieces including four each of fanfares, preludes, and melodramas as well as three songs and a March finale. To maintain the dramatic momentum of the play, the length of individual numbers vary according to context and function: the shortest are functional fanfares lasting less than ten bars while the longest are the preludes to each act, with the prelude to Act Four lasting close to eight minutes. As Roland Wiley has pointed out, several of the preludes are borrowed from the composer’s earlier works: the prelude to Act II (No. 5) came from the “Alla tedesca” of the Third Symphony; the prelude to Act III (No. 7) originally appeared as No. 10 “Kupava’s Complaint” in The Snow Maiden; and the Elegy in Honor of I.V. Samarin appears before act IV. However, the most interesting numbers are the songs and melodramas.
The first two melodramas are associated with appearances of the ghost in act one and contain reminiscences from the overture, specifically the four measure theme in the upper strings that opens the overture (see example one). At the ghost’s first appearance, the theme is played by the trombones and accompanied by held notes in the woodwinds and tremolo strings, creating a very chilling effect. In the second appearance, the theme recurs in the woodwinds, unifying the two melodramas (Numbers One and Three) thematically, as well as by their common key of d minor.
Example 1
The next two melodramas (Numbers Four and Eight) are longer and more traditional in that they accompany the spoken dialogue, and both are associated with descriptions of the poisoning of Hamlet’s father. Musically, both are in C minor, have a common melody for bassoon, and a running eighth note accompaniment figure in the strings. (see example two).
Example 2
The two songs setting Ophelia’s mad scene (Numbers Ten and Eleven) powerfully express the tension between the character’s sweet, disassociated nostalgia and self-destructive depression. Tchaikosky mainly achieves this through his setting of Ophelia’s folklike melody (reminiscent of one of John Gay’s borrowed tunes) in a dark minor context. The nuance of Tchaikovsky’s expression is stirring, especially at the end of the first song when Ophelia sings: “Beautiful, adored angel, will I marry you? You were speaking sarcastically – Yes, but just between us, the lover and the spouse are too frightening, my dear.” Interestingly, in Number Thirteen “Chant du Fossojeur,” the tension is reversed as the dark humor of the singing gravedigger is set in a very bright and optimistic way, even drawing on the traditional Welsh folksong Nos Galan for its strophic melody.
In the final assessment, one of the primary reasons that Tchaikovsky’s score is so rarely performed is that there is simply so little music, and much of it is borrowed. Compare, for example, Shostakovich’s setting with over 25 individual numbers. The few numbers and borrowed entr’actes of Tchaikovsky’s score will hardly justify the cost of an entire orchestra for a performance of Hamlet. It is only the songs, with their sophisticated settings and use of pre-existing themes that manage to maintain a toe-hold in the repertory as recital pieces. This is unfortunate because overall, the work is a powerful setting that increases the dramatic impact of Shakespeare’s masterpiece. One imagines that in the appropriate context, perhaps in a university or secondary school with a strong theatre department and music program, Tchaiskovsky’s incidental music to Hamlet might find a continued context for performance.
Joseph E. Morgan, 2011
Parts are available from Muzyka, Moscow. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig..
Roland John Wiley, Tchaikovsky, London: Oxford University Press, 2009
David Brown, Tchaikovsky: the man and his music, New York: Pegasus Books, 2007
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