Johannes Brahms
(Mai 1833 – gest. Wien, 3. April 1897)

Ungarische Tänze für Orchester

Nr. 1 in g - Moll
Nr. 3 in F - Dur
Nr. 10 in F - Dur

 

Vorwort
Obwohl sich unter den Ungarischen Tänze einige von Brahms’ Kompositionen mit dem grössten Wiedererkennenswert finden, nehmen sie innerhalb seines Gesamtwerks einen eigentümlichen, wenn nicht gar kontroversen Platz ein. Zum erstenmal im Jahre 1869 publiziert, erfolgte diese Veröffentlichung getreu zweier Bedingungen, die Brahms sich ausbat: dass sie ohne Opuszahl erscheinen und dass er selbst nicht als Komponist, sondern lediglich als Bearbeiter erwähnt werde. Dies lässt einen bewussten Versuch vermuten, jene Werke , die seine bestverkauften werden sollten, aus seinem Opus - Katalog “ernster” Werke auszuschliessen, der 1869 bereits seine Serenaden für Orchester, das Piano - Quintett und das Horn - Trio, das Klavierkonzert Nr.1 und die Streichsextette, drei Klaviersonaten und eine Sonate für Cello sowie eine grosse Anzahl an Liedern enthielt. Die Gründe dafür hatten sowohl mit Bescheidenheit wie auch einem gewissen Bildungsdünkel zu tun, beanspruchte Brahms doch nur die Urheberschaft auf drei Melodien (von denen keine in dieser Sammlung enthalten sind) und entlieh den Rest einer Sammlung von Volksweisen, die er seit 1854 besass, als der Geiger Reményi den jungen Brahms mit ungarischer Zigeunermusik bekannt machte und eine lebenslange Leidenschaft in ihm erweckte. Aber Simrock, der Verleger, nahm sich heraus, das Wort “Bearbeiter” aus der ersten Ausgabe zu streichen, da er wahrscheinlich voraussah, dass dies schädlich für den Verkauf sein könne, und erregte damit den Zorn von Rémeny und des volkstümlichen Komponisten Béla Kéler, die beide die Autorenschaft für sich beanspruchten. Tatsächlich war Rémeny wahrscheinlich Brahms erste Quelle, die ihn in Kontakt mit vielen dieser Melodien brachte. Um aber die Dinge komplizierter zu machen, kommentierte Brahms später, dass er gewusst habe, dass das Geigenspiel Rémenys nicht repräsentativ für authentische Zigeunermusik gewesen sei. Darüberhinaus räumte er ein, dass er die Melodien notiert habe, als er sie von reisenden ungarischen Musikanten gehört habe, die ihre Musik auf ein Touristenpublikum zugeschnitten hatten, wie es auch bei Tango-, Flamenco - und Klezmergruppen üblich sei, wenn sie eine Kundschaft nach Massgabe einer Klischeevorstellung des Genre unterhielten. Wie wenige Werke Brahms’, eines Komponisten, der bekannt für seine abstrakte Meisterschaft von musikalischer Form und Textur ist, provozieren diese Werke, bevor überhaupt die Idee einer Bearbeitung für Orchester - in welcher Bearbeitung auch immer - aufkommt, Fragen nach Authentizität und geistigem Eigentum.

Auch werfen die Ungarischen Tänze Fragen zur Aufführungspraxis und den Grenzen der Notation auf, zumindest in der Form, wie sie zum damaligen Zeitpunkt existierte. Brahms schrieb an Simrock, dass es schwierig sei, Dinge aufzuschreiben, die man lange Zeit “wild” vor sich hin gespielt habe, und es solle alles so praktisch wie möglich notiert sein. Viele Briefe und Abrechnungen belegen, dass Brahms stolz darauf war, Stegreifvorstellungen im ungarischen Stil auf Festen zu geben. Somit sollten wir unter “wild” verstehen, dass Improvisation (oder eine Mischung aus erinnertem und gerade erfundenem Material) eine grosse Rolle in den musikalischen Welten spielte, die er kreierte. Die Tatsache, dass er sich der Schwierigkeiten einer Umsetzung seiner pianistischen Praxis in Notenschrift so bewusst war, erklärt seine Zurückhaltung in Fragen der Orchestrierung seiner Ungarischen Tänze, ist doch die hochgradig vermittelte Aufführungsdynamik eines Orchesters das genaue Gegenstück zu der einer Volksmusikgruppe. So ist anzunehmen, dass die drei Werke, die hier in der Orchestrierung durch den Komponisten selbst veröffentlicht werden, nicht dazu geschaffen wurden, irgendeine Form authentischer Aufführungspraxis zu ermöglichen, sondern eher das symphonische Gewand nach den ihm eigenen Gesetzmässigkeiten einzusetzen und dadurch die Melodien in einer anregenden, alternativen Form zu jener einer Gruppe aus authentischen Musikern vorzustellen.

Dies war nicht das erste Mal, dass Brahms versuchte, eine an Zigeunermusik angelehnte Behandlung von Material und Gattung mit einer symphonischen Herangehensweise an Form (im Sinne von Textur und motivischer Entwicklung) zu vereinen. Das Piano - Quartett Nr. 1 in g - Moll hat ein gefeiertes Finale mit der Bezeichnung “Alla Zingarese”, komplett mit Klavierkadenzen im Stile des Hackbretts und kontrapunktischer Ausarbeitung improvisatorischer Themen. Brahms fasste seine zwiespältige Beziehung mit der für ihn obligatorischen Beredsamkeit zusammen, als er die Ungarischen Tänze Simrock anbot: “Dies sind originale Kinder der Puszta und der Zigeuner - somit nicht von mir geschaffen, sondern lediglich grossgezogen für Butter und Brot.” Dies beschwört das Bild eines Komponisten, der das Potential eines musikalisches “Kindes” fördert, um einen vollwertigen “Erwachsenen” zu erschaffen; dieses Bild war zweifellos aus der Rezeption der Tänze geboren, die nach Brahms’ Freund und Förderer Eduard Hanslick kleine Wunder an Harmonisation und Rhythmik waren, die die Kunst des “Bearbeiters” weit über die des anonymen “Sängers” jener einfachen Volksmelodien erhebe. Inzwischen, im Jahre 1982, schreibt der Musikwissenschaftler Karl Geiringer, dass Brahms die charakteristische Melodik, Harmonie und Rhythmik bewahre, um all dem eine künstlerische Form zu verleihen, die es auf eine höhere Ebene hebe. Diese Meinung reflektiert eine Haltung kritischen Vorurteils in Bezug auf Notation und formalem Verstand, die im 21. Jahrhundert kaum mehr Sinn ergibt, sind wir uns doch der Werte und gemeinsamer Schnittstellen verschiedenster künstlerischer Traditionen bewusst. Es besteht keine Frage, dass diese Bearbeitungen jenes Handwerk, Erfindungsreichtum und Subtilität verkörpern, die wir von Brahms erwarten, aber sie sollten als eine sehr persönliche Perspektive verstanden werden, aus der Spuren der ungarischen Volksmusik betrachtet werden (und ihr Dialog mit der Symphonik erfahren werden kann), und nicht als deren Vervollkommnung.

Tim Ribchester, 2011

Aufführungsmaterial ist von Breitkopf und Härtel, Wiesbaden zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Stadtbibliothek München.

Johannes Brahms
(b. Hamburg, 7 May 1833; d. Vienna, 3 April 1897)

Hungarian Dances
for orchestra

No. 1 in G minor
No. 3 in F major
No. 10 in F major

 

Preface
Though they contain some of Brahms’s most instantly recognizable music, the Hungarian Dances occupy a quirky and somewhat controversial place among his works. First published in 1869 as a set of piano duets, they appeared following two requests from Brahms: firstly that no opus number be assigned to them, and secondly that he be credited as arranger, rather than composer. This immediately suggests a conscious attempt to distance these pieces, which became some of his best-selling compositions, from the main body of ‘serious’ music in his opus catalog (which by 1869 included the orchestral Serenades, Piano Quintet and Horn Trio, the Piano Concerto No. 1 and String Sextets, three piano sonatas and a cello sonata, and a vast array of songs). The reasons had as much to do with humility as apparent snobbery, for Brahms claimed to have authored only three of the melodies (none of which are in the present selection) and obtained the rest from a collection of folk tunes he had been keeping since 1854, when the violinist Reményi introduced the young Brahms to Hungarian gypsy music and ignited a lifetime obsession. But Simrock, the publisher, saw fit to omit the word ‘arranger’ from the first edition, presumably anticipating that it would deter sales, and thus provoked the ire of both Reményi and the populist composer Béla Kéler, who each made authorship claims. Reményi, in fact, had indeed been the source of Brahms’s first hearings of many of these melodies, but to complicate things Brahms later commented that the violinist’s playing was not representative of authentic gypsy music, and moreover admitted that the melodies he notated were performed by touring Hungarian musicians who tailored their music making to foreigners, in much the way tango, flamenco and klezmer groups do when catering for a tourist audience mainly responsive to the clichés of the genre. So even before the question of orchestration is raised, these works - in any instrumentation - call into question notions of authenticity and intellectual property like few others by Brahms, a composer best known for his abstract mastery of musical form and texture.

The Hungarian Dances also raise questions of performance practice and the limits of notation. Brahms wrote to Simrock that “it is difficult to write down things one has played wildly for a long time, and it should be as practical as possible.” Many letters and accounts confirm that Brahms was fond of giving impromptu solo performances of Hungarian style music at parties, and from his use of “wildly” we should understand that improvisation (or a mixture of remembered and extemporized material) played a large role in the musical realities he created. The fact that he was so conscious of the notational challenge posed by his own pianistic practices explains his reticence in orchestrating the Hungarian Dances, for the symphony orchestra’s highly mediated performance dynamic is in many ways the polar opposite of a folk group’s. It must be assumed, therefore, that the three works presented here in the composer’s orchestrations are not intended to reflect any kind of authentic performance style, but rather to utilize symphonic coloring on its own terms and thus present the melodies in a stimulating alternative manner to that of a group of stylistically authoritative soloists.

This was not the first time that Brahms had attempted to fuse a gypsy-flavoured approach to genre and material with a symphonic treatment of form (in the sense of texture and motivic development). The first Piano Quartet in G minor has a celebrated finale marked “Alla Zingarese”, complete with piano cadenzas in hammered-dulcimer style and contrapuntal elaboration of improvisatory themes. Brahms summarized this hybrid relationship with his usual oblique brand of rhetoric when presenting the Hungarian Dances to Simrock: “these are genuine children of the Puszta and Gypsies – not, therefore, created by me, rather just reared on bread and milk”. The image this conjures is of the composer nurturing the potential of the musical “child” to create a fully-fledged “adult”; this view was certainly borne out in the reception of the dances, which for Brahms’s friend and champion Eduard Hanslick were “little miracles of harmonization and rhythm, which raise the art of the ‘arranger’ far above that of the anonymous ‘singer’ of these simple folk melodies.” Meanwhile, as late as 1982 the musicologist Karl Geiringer wrote that Brahms “preserv[ed] the characteristic melody, harmony and rhythm of Gypsy music, to give it an artistic form that raised it to a higher level.” These judgments reflect an attitude of critical bias toward notation and formal premeditation that makes little sense in the twenty-first century, where we have come to be aware of the values and intersections of multiple artistic traditions. There is no question that these orchestrations display all the craft, resourcefulness and subtlety we expect from Brahms, but they should be understood as a personalized lens through which to view traces of Hungarian musical practice (and experience its dialogue with symphonic practice), not an apotheosis.

Tim Ribchester, 2011

 

For performance material please contact the publisher Breitkopf und Härtel, Wiesbaden. Reprint of a copy from the music library archives of Münchener Stadtbibliothek, Munich.