Louis Spohr
(geb. Braunschweig, 5. April 1784 - gest. Kassel, 22. Oktober 1859)

Die letzten Dinge

Als Johann Friedrich Rochlitz dem Komponisten Louis Spohr den Text für Die letzten Dinge anbot, erwog Spohr das Angebot von der pragmatischen Seite her, bevor er sich entschied. In einem Brief an seinen Freund Wilhelm Speyer nannte Spohr die drei wichtigsten Gründe, warum er das Angebot schließlich annahm: den hochinteressanten Text; die Tatsache, dass er erst vor kurzem eine Oper beendet hatte, und dass “es so viele Gesangvereine und Musikfestivals“ gäbe, so dass er für eine Aufführung keine Schwierigkeiten sah. Tatsächlich war das Oratorium als konzertantes geistliches Werk für Stimmen und Orchester in Deutschland in einem Aufschwung begriffen. (1) Händels biblische Oratorien waren immer noch ziemlich populär. Aber Spohr erkannte, dass die Gesangvereine gerade ein spezifisch deutsches Chorwerk von einem deutschen Komponisten hocherfreut aufnehmen würden, weil es die gemeinsamen Werte der nationalen Bewegung verstärkte.

Allerdings akzeptierte Spohr den Text nicht ohne Vorbehalt; ja, die Zusammenarbeit zwischen Komponist und Librettist ist einer der bemerkenswerten Aspekte des kompositorischen Prozesses der Letzten Dinge. Rochlitz’ Text war zunächst nur aus den Kapiteln der Offenbarung des Johannes zusammengestellt und sollte aus einem einzigen Teil bestehen. Dann wollte Spohr einen längeren dreiteiligen Text. Nach einigen Verhandlungen wurde ein Kompromiss gefunden, es wurden zusätzliche Abschnitte aus verschiedenen Büchern des Alten und Neuen Testaments hinzugefügt, und der Gesamttext wurde in zwei Teile geteilt.

Doch die Verhandlungen verliefen in beide Richtungen. Rochlitz hatte eine klare Vorstellung von der Art der Musik, die er erwartete. Er schrieb dem Komponisten, dass: “... das Werk im erhabensten Kirchenstil komponiert werden solle, also im Stil unserer Vorfahren bis einschließlich Händel; es solle aber gleichzeitig die technischen und expressiven Mittel zeigen, die seit der damaligen Zeit so sehr erweitert und perfektioniert wurden.“ Es ist interessant festzustellen, dass Rochlitz’ Forderungen die unglaubliche Herausforderung deutlich machen, die die Komposition eines Oratoriums in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert ausmacht. Um erfolgreich zu sein, musste jedes neue Oratorium für die Ohren des 19. Jahrhunderts aktuell sein. Ebenso erwarteten die bemerkenswert gut ausgebildeten deutschen Hörer und Interpreten auch den Ausdruck der höchsten kulturellen Werte und Ästhetik. Darüber hinaus musste die Musik ansprechend genug sein, um auch von Amateur-Musik-Ensembles aufgeführt zu werden. In seiner Autobiographie beschreibt Spohr seine Absicht so: “Ich war vor allem bemüht, sehr einfach zu sein, religiös und echt im Ausdruck, und dabei sorgfältig alle künstlerischen Tricks, jeden Bombast und Aufführungsschwierigkeiten zu vermeiden.” (2)

Das Ergebnis all dessen ist Spohrs Verschmelzung von kurzen opernhaften Solo- und Ensemble-Nummern mit mehr sakral wirkenden Chorälen - ein Merkmal, das das Oratorium des 19. Jahrhundert generell charakterisieren sollte. Als solche sind viele von Spohrs Abschnitten ziemlich kurz, manche haben sogar nur sieben Takte. Diese sind nicht als autonome Musikstücke zu verstehen, wie es in einer Nummern-Oper der Fall wäre, sondern sie spiegeln Augenblicke wider, in denen ein stilistisches Genre neu entsteht oder in denen ein Abschnitt eine formale Bedeutung hat. Als solche werden Rezitative, die alle begleitet sind, oft aus den ihnen folgenden Arien heraus getrennt, und viele der Abschnitte enden mit kurzen Übergangstakten, die den nächsten Abschnitt vorbereiten.

Viele der längeren Nummern sind allerdings sehr schön. Besonders auffallend ist hier das Duett Nr. 15 “Sei mir nicht schrecklich in der Noth” für Tenor und Sopran aus dem zweiten Teil. Die Partien liegen für beide Solisten sehr günstig. Wie ein Korrespondent 1826 von der Premiere in Kassel berichtet, ist das Stück “voller Zärtlichkeit und Süße.” (3) Die vorangehende Bass-Arie Nr. 14, “So spricht Der Herr”, ist auch sehr bewegend, wenn der gebieterische Bass (als Stimme des Apostels Johannes) das Ende der Zeiten verkündet.

Die Begleitung der Bass-Arie ist sehr interessant, weil sie zwei der wichtigsten Themen des Oratoriums verwendet: Eine punktierte Figur und eine langsamere absteigende chromatische Melodie, die beide in den ersten sechs Takte zu hören sind. Im Verlauf des gesamten Oratoriums werden die zwei Themen auf subtile Weise variiert, kehren aber mit zunehmender Intensität im zweiten Teil wieder, wenn das Ende der Zeiten nahe ist. Die Themen erreichen einen eindrucksvollen, aber ruhigen dramatischen Höhepunkt in Nr. 18 (“Gefallen ist Babylon”), an den Stellen “Die Stunde der Ernte ist da” und “Das Grab giebt seine Todten!”. Dieser Teil ist einer der mächtigsten und dramatischsten Momente in der gesamten Musik des 19. Jahrhunderts.

Es sind jedoch die Chor- und die instrumentalen Abschnitte, die dem Werk seine Bedeutung geben. Die Teile I und II werden durch ausgedehnte Instrumentalpassagen eingeleitet, in denen die beiden oben genannten Themen gespielt und in Imitation und Variation behandelt werden. Die Chöre sind monumental; sie bringen oft ein zentrales Fugato, das von homophonen Abschnitten umrahmt wird. Der letzte Chor, Nr. 22 (“Gross und wunderbarlich”), ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Dieses kurze Vokal-Quartett erinnert an den letzten Satz von Beethovens neunter Symphonie, die zwei Jahre vorher uraufgeführt wurde, besonders bei der Stelle “Und alle Völker der Erde, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir!” Schließlich endet dieser Chor mit einem kurzen Hallelujah-Abschnitt, der an den berühmten Händel-Chor erinnert.

Im Jahr 1830 beschrieb ein Autor für das Harmonicon Spohrs Oratorium als “eine der größten Musik-Produktionen der damaligen Zeit.” In der Tat sollten Die letzten Dinge in den nächsten Jahren eines der bekanntesten und meistgespielten Werke Spohrs werden. Nun, im 21. Jahrhundert, haben Historiker, Interpreten und Bewunderer der Chorliteratur des 19. Jahrhunderts endlich eine Studienpartitur vorliegen, um sich mit diesem Meisterwerk vertraut zu machen.

Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Jäger

(1) Vergl. Clive Brown, Louis Spohr: A critical biography. Cambridge: Cambridge University Press, 1984
(2) Louis Spohr, Autobiography Aus dem Deutschen übersetzt. London: Longman, Greene et al, 1965, S. 160.
(3) “Reports: Cassel” The Harmonicon. Vol. 5, S. 72.

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an Novello,, London. Nachdruck eines Exemplars aus der Bibliothek des
Conservatoire de musique Genève, Genf.

Louis Spohr
(b. Braunschweig, 5 April 1784 - d. Kassel, 22 October 1859)

 

Die Letzten Dinge

When Johann Friedrich Rochlitz offered Louis Spohr the text for Die Letzten Dinge (The Last Judgment), Spohr pragmatically considered the offer before agreeing. In a letter to his friend Wilhelm Speyer, the composer cited the three primary reasons for why he finally accepted the offer: the excellence of the text, the fact that he had just recently completed an opera, and that “there are so many choral societies and musical festivals” he would have little difficulty getting it performed. Indeed, as an unstaged work for voices and orchestra on a sacred topic, the oratorio tradition was about to undergo a great resurgence in 19th century German culture. (1) Although the biblical oratorios of Handel continued to be rather popular, Spohr recognized that these nationalist choral societies would prize a specifically German work by a German composer to help in their efforts to articulate the shared values of the nationalist movement.

However, Spohr did not accept the text without reservations; indeed, one of the remarkable aspects of the compositional process of this work is the collaboration between composer and librettist. Rochlitz’s text was at first assembled solely from the texts of The Book of Revelation and was conceived as only consisting of one part. However, Spohr wished for a longer text in three parts and, after some negotiations, a compromise was struck in which additional numbers were added from various books of the old and new testaments, and the text was divided into two parts.

Yet the negotiations went both ways. Rochlitz had a clear vision of the kind of music he expected, writing to the composer that: “…the work should be composed in the most elevated church style, that is to say essentially in that of our ancestors, up to and including Handel, but at the same time using the technical and expressive means which have been so very much expanded and perfected since that time.” It is interesting to note that Rochlitz’s requirements reveal the incredible challenge behind composing an oratorio in Germany in the early 19th century. In order to be successful, any new oratorio must remain up to date for 19th century ears even as it provided an expression of the highest cultural aesthetics and values expected by these remarkably well-educated German listeners and performers. Further, the music must also be accessible enough to be performed well by amateur music ensembles. In his autobiography, Spohr described his intent as such: “I had in particular striven to be very simple, religious, and true in expression, and carefully to avoid all artistic trickery, all bombast and everything of difficult execution.” (2)
The result of all this is Spohr’s amalgamation of short, operatic solo and ensemble numbers with longer sacred-style chorales—a trait that would come to characterize the 19th century oratorio in general. As such, many of Spohr’s numbers are rather brief, some even as short as seven measures. They are not meant to be considered independent or autonomous as they would be in a number opera, but instead reflect moments when a stylistic genre emerges or when a section performs a formal function. As such, transitional recitatives (all accompanied) are often separated out from the following arias, and many numbers end with brief transitional sections that prepare the next.

Many of the longer numbers are, however, quite beautiful. Particularly striking is the second part duet No. 15 “Sei mir nicht schrecklich in der Noth” for tenor and soprano. The parts sit comfortably in the range of both voices and, as was noticed by a correspondent writing from the 1826 premiere in Cassel, the number is “full of tenderness and sweetness.” (3) The previous solo bass aria from the second part, No. 14 “So Spricht Der Herr,” is also quite stirring as the authoritative bass (the voice of John the Revelator) heralds the end of times.

The 14th number’s accompaniment is quite interesting for its implementation of the oratorio’s two primary reminiscence themes, a dotted figure and a slower des-cending chromatic gesture which are both heard in the number’s first six measures. The two themes are treated in subtle variation throughout the work but recur with increasing intensity in the second part as the end of times approaches, reaching a potent but quiet dramatic climax in No. 18 “Gefallen ist Babylon” when “Die Stunde der Ernte ist da” (The hour of judgement is come) and “Das Grab giebt seine Todten!” (The grave gives up its dead). The number is one of the most powerful dramatic moments in any music from the 19th century.

However, it is the chorales and instrumental sections that give the work its gravitas. Parts One and Two are both introduced by extended instrumental works in which the two themes mentioned above are given and treated in imitation and variation. The choruses are monumental, often framing a central fugato with homophonic statements. The last chorus, No. 22 “ Gross und wunderbarlich” is remarkable for several reasons. This brief quartet of voices is reminiscent of the last movement of Ludwig van Beethoven’s Ninth Symphony premiered two years hence, especially at the text “Und alle Völker der Erde, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir!” (And all nations of the earth shall come and worship thee). At the same time the chorus ends with a brief (and subtly prepared) Hallelujah section that is evocative of Handel’s own famous chorus.

In 1830, a writer for the Harmonicon described Spohr’s oratorio as “one of the greatest musical productions of the age.” Indeed, in the coming years Die Letzten Dinge would become one of Spohr’s most recognized and performed works. Now in the 21st century, historians, performers and admirers of 19th century choral literature finally have a study score with which to acquaint themselves with this masterpiece.

Joseph E. Morgan, 2011

(1) See Clive Brown, Louis Spohr: A critical biography Cambridge: Cambridge University Press, 1984
(2) Louis Spohr, Autobiography Translated from the German. London: Longman, Greene et al, 1965 p. 160.
(3) “Reports: Cassel” The Harmonicon Vol. 5 p. 72.
For performance material ask Novello, London. Reprint of a copy from the library of the Conservatoire de musique Genève, Geneva.