Mieczyslaw Karlowicz
(geb. Wiszniew, Lithuania, 11. Dezember 1876 - gest.Zakopane, 8. Februar 1909)


Stanisław i Anna Oświeçimowie op. 12


Mieczysław Karłowiczs Karriere als Komponist war kurz. Nur wenige Monate vor seinem 32. Geburtstag endete sie vorzeitig durch seinen Tod bei einem Lawinenunglück in der Hohen Tatra. Seinen ersten Musikunterricht erhielt er bereits als Kind in Heidelberg, aber die formelle Ausbildung absolvierte er mit einem Studium in Berlin bei Heinrich Urban (über den er im Jahre 1910 einen Artikel schrieb) und mit Dirigierunterricht bei Arthur Nikisch. Unter seinen veröffentlichen Werken, häufig in grossformatigem Satz, finden sich eine Serenade für Streicher op.2, die Symphonie Odrodzenie op.7, das Violinkonzert op.8 und nicht weniger als sechs symphonische Gedichte (opp. 9 - 14), wovon Stanisław i Anna Oświeçimowie das vierte ist. Seine op. 14, Epizod na maskaradzie (Episode auf dem Maskenball) blieb bei Karlowiczs Tod unvollendet und wurde von Grzegorz Fitelberg ergänzt, der auch die Premiere 1919 dirigierte. Karlowicz kleinere Werke umfassen eine Reihe von Liedern.
Der Entwurf der Partitur von Stanisław i Anna Oświeçimowie wurde in Leipzig 1907 vollendet, die Orchestrierung folgte im Herbst des selben Jahres. Am 27. April 1908 fand die Uraufführung der Komposition in Warschau unter Leitung des Komponisten statt. Anlässlich des Konzerts der Warszawskie Towarzystwo Muzyczne (Warschauer Musikgesellschaft) spielte das Warschauer Symphonieorchester. Die Partitur und das Stimmenmaterial wurden 1912 gleichzeitig in Berlin und Warschau veröffentlicht. Die Ausgabe wurde vom Komponisten und Pädagogen Henryk Melcer-Szczawínski redigiert.
Zur Komposition über die Geschichte von Stanisław and Anna Oświeçim wurde Karlowicz durch das Gemälde ""Stanisław Oświeçim przy zwłokach Anny" (Stanisław Oświeçim am Grab von Anna) von Stanisław Bergmann angeregt. Nach Aussagen des Musikologen Henryk Anders muss der Komponist dieses Werk ausserordentlich bewundert haben - er besass eine Kopie des Gemäldes und hatte gar versucht, das Original zu erwerben, als es auf einer Ausstellung in Krakau zu sehen war. Die Geschichte hinter dem Werk ist die einer verbotenen Liebe zwischen den Geschwistern Anna und Stanisław, ein Thema, das der Komponist offenbar als eine polnische Version von "Romeo und Julia" angesehen haben muss. Karlowicz beschreibt die Details der Geschichte in der Einleitung der Partitur: Anna und Stanisław wuchsen getrennt von einander auf und begegneten sich erst als Erwachsene. Sie kämpfen gegen ihre Gefühle der Liebe an, letztendlich ohne Erfolg. Stanisław macht sich auf den Weg zu einem Besuch des Papstes, um die Erlaubnis zur Heirat zu erlangen. Nach einem Disput wird sie gewährt, und er macht sich auf den Weg nach Hause, um dort seine Schwester tot vorzufinden. Er selbst stirbt kurze Zeit später.
Die Oświeçim - Familie sind tatsächlich existierende historische Persönlichkeiten, aber es gibt keine Quellen für die Echtheit der Geschichte von Stanisław und Anna, wie sie von Karlowicz berichtet wird. Die Familie hatte Verbindungen zur polnischen Stadt Krosno (im Südosten des Landes nahe der Ukraine), und dort soll sich der Legende nach in einer Kapelle das Grab von Anna befinden.
Das auffallendste Merkmal an Karlowiczs Partitur ist der immense Orchesterapparat, offensichtlich das grösste Ensemble, das von einem polnischen Komponisten bis zu diesem Zeitpunkt verlangt wurde. Einige der eher exotischen Instrumente, die eingesetzt werden, sind Englischhorn, Bassklarinette, Kontrafagott, Klarinette in Es (neben zwei Klarinetten in A) und Tamtam, das eingesetzt wird, um ein niederschmetterndes Finale zu erzeugen. Das grosse Ensemble beinhaltet ebenso sechs Hörner (geteilt in drei Gruppen zu zwei Instrumente), eine Tuba und zwei Harfen. Darüber hinaus werden die Streicher gelegentlich in Untergruppen geteilt und verlangen nach einer grossen Anzahl von Musikern. Karłowicz war offensichtlich sehr besorgt, dass das Orchester für die Premiere nicht gross genug sei, und er drang darauf, dass ausreichend Musiker anwesend seien.
Der musikalische Stil der Komposition wird allen bekannt sein, die sich mit dem Werk Richard Strauss' auskennen, gelegentlich ist auch der Einfluss von Tschaikowsky und Wagner zu hören. Karlowicz war tief bewegt vom Thema der verbotenen Liebe, und Henryk Anders erkennt in dem Werk zwei Themen mit sehr speziellen Aufgaben: ein tragisches Thema, vorgestellt bei Takt 27 bis 32, und ein Liebesthema, angekündigt durch die Oboe in Takt 47 und den Abschnitt bis Takt 91 beherrschend. Anders benennt das thematische Material von Takt 1 bis 26 "temat gwaltownosci uczuc", oder "Thema der gewalttätigen Gefühle". Dieses Thema wird bei Takt 216 wieder aufgenommen, wie es in fragmentarischer Form immer wieder auftaucht. Anders als Strauss und seine Weggenossen jedoch versucht Karlowics nicht, seine Geschichte direkt zu schildern, obwohl im Finale (ab Takt 328) im "Tempo di marcia funebre" sicherlich auf den Tod Annas angespielt wird, möglicherweise sogar mit einer Vorausahnung von Stanisławs Tod. Der Komponist konzentriert sich eher auf die Reflektion der psychologischen und emotionalen Zustände der Liebenden. Dennoch ist es gelegentlich nicht leicht, sich des Eindrucks aussermusikalischer Ideen zu verwehren - so dominiert das Liebesthema einen langen Abschnitt ab Takt 171, und es ist schwierig, sich hier nicht eine Art Vollzug der Liebesbeziehung vorzustellen, bevor das "Thema der gewalttätigen Gefühle" und das tragische Thema kontrapunktisch miteinander verschränkt bei Takt 188 wiederkehren. Die Passage ab Takt 319, die in einen grotesken und erschreckenden Trauermarsch mündet, reflektiert sicherlich den tiefen Schock, der Stanisław ereilt, als er zu Hause seine tote Geliebte vorfindet. Das Liebesthema wird ganz uncharakteristisch ab Takt 272 von der Bassklarinette in einem unheilvollen Satz voller Vorahnung präsentiert, bevor es bei Takt 302 wieder aufbricht in eine mit "con passione" bezeichnete Sektion aufbricht: Ist dies Stanisławs Triumph, als er den Segen des Papstes erringt? Vielleicht, vielleicht nicht? Man macht es sich zu leicht, ein solches Programm auf die Musik zu übertragen, ohne zu wissen, was im Kopf des Komponisten zu jedem Moment seiner Arbeit vor sich ging. Ganz am Ende des Werks, in brillantem Satz (ab Takt 415), wird ein desolates und klagendes Thema vorgestellt, das bisher nicht zu hören war. Es spielt die Oboe, das Instrument, das ursprünglich das Liebesthema spielte.
Stanisław i Anna Oświeçimowie wurde eingespielt als Teil einer CD - Box mit Karlowicz symphonischen Gedichten unter Chant du Monde LDC 278966/67. Es spielt das Silesian Symphony Orchestra unter Jerzy Salwarowski.
John Wagstaff, 20011
With thanks to Marek Sroka for his help with Polish material.

 

In Fragen des Aufführungsmaterials wenden Sie sich bitte an Polskie Wydawnictwo Muzyczne [PWM].Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Mieczysław Karłowicz
(b. Wiszniew [Vishneva], Lithuania, 11 December 1876 – d. Tatras Mountains, 8 February 1909)
Stanisław i Anna Oświeçimowie
op. 12


Mieczysław Karłowicz's composing career was brief, cut prematurely short a few months after his thirty-second birthday by his death in an avalanche while climbing in the Tatras Mountains. He had received his first music lessons, while still a child, in Heidelberg, but his more formal instruction in music involved composition studies in Berlin with Heinrich Urban (about whom he published an article in 1900), and studies in conducting with Arthur Nikisch. His published works are frequently ambitious in scale and include a Serenade for strings op. 2, a Symphony "Odrodzenie" op. 7, a Violin Concerto op. 8, and no fewer than six symphonic poems, numbered op. 9-op. 14, of which Stanisław i Anna Oświeçimowie is the fourth. His op. 14, Epizod na maskaradzie [Episode during a masquerade], lay unfinished at Karłowicz's death and was completed by Grzegorz Fitelberg, who also conducted its premiere in 1919. Karłowicz's smaller-scale works comprise a number of songs.
The draft score of Stanisław i Anna Oświeçimowie was completed in Leipzig in June 1907, and its orchestration finished in Zakopane in autumn of the same year. The work received its first public performance in Warsaw on 27 April 1908 at a concert of the Warszawskie Towarzystwo Muzyczne [Warsaw Music Society], with the composer himself conducting the Warsaw Philharmonic Orchestra. Score and parts were first published, simultaneously in Warsaw and Berlin, in 1912. Their publication was overseen by composer and pedagogue Henryk Melcer-Szczawínski.
Karłowicz was inspired to create a symphonic poem on the story of Stanisław and Anna Oświeçim by a painting, "Stanisław Oświeçim przy zwłokach Anny" [Stanisław Oświeçim at the tomb of Anna] by Stanisław Bergmann. According to musicologist Henryk Anders, Karłowicz must have greatly admired this painting – he owned a copy of it, and at one time even tried to purchase the original, which was on display in Kraków. The story behind the poem is of the doomed love affair between sister and brother Anna and Stanisław, a subject that the composer seems to have regarded as a Polish "Romeo and Juliet" story. Karłowicz himself set out the details of the story in his introduction to the score: Stanisław and Anna have grown up far apart, and their first meeting is as adults. They struggle against mutual feelings of love, ultimately without success, and Stanisław sets off to visit the Pope in an attempt to obtain his consent for them to marry. After much pleading, this consent is granted and Stanisław returns home, only to find his sister dead. He himself dies soon afterwards.
The Oświeçim family were, in fact, real historical figures from the seventeenth century, but there is no historical basis for the legend of Stanisław and Anna as recounted in Karłowicz's work. The family had associations with the medieval town of Krosno (in south-east Poland, near the Ukraine), and in the legend Anna's tomb is located in a Krosno chapel.
The most striking first impression to emerge from Karłowicz's setting is that made by the massive orchestra, apparently the largest ensemble that had been called for in any piece of music by a Polish composer up to that time. Some of the more exotic instruments demanded are the cor anglais, bass clarinet, contrabassoon, clarinet in E flat (in addition to two standard clarinets in A), and tam-tam, which is used to devastating effect in the final section. The large ensemble also includes six horns (divided into three groups of two), a tuba, and two harps. Furthermore, the strings are frequently subdivided, requiring a very large number of players. Karłowicz himself was apparently concerned that the orchestra for the premiere would not be large enough, and took pains to ensure that there would be sufficient performers.
The musical style will be familiar to anyone acquainted with the symphonic poems of Richard Strauss, while the influence of Wagner and Tchaikovsky is also sometimes in evidence. Karłowicz was deeply influenced by the idea of doomed love, and Henryk Anders has posited a special role for two particular themes: a "tragedy" theme, introduced at bars 27-34, and a "love" theme, announced by the oboe in bar 47 and dominating the section to bar 91. Anders also calls the thematic material from bars 1-26 "temat gwaltownosci uczuc", or "theme of violent emotions". This theme reappears at bar 216, and in fragmentary form elsewhere. Unlike Strauss and others, however, Karłowicz does not try directly to tell a story in music, even though the final section (from bar 328), marked "Tempo di marcia funebre", is surely a reference to the death of Anna, and maybe foreshadows Stanisław's passing also. The composer concentrates, rather, on reflecting the psychological and emotional states of the two lovers. Nonetheless, it is difficult to avoid the impression of extra-musical ideas in some places – for example, the love theme dominates a long section from bar 171, and it is hard not to imagine some sort of consummation scene here before the "theme of violent emotions" and "tragedy" theme return in counterpoint with each other at bar 188. The passage from bar 319 that leads into the grotesque and terrifying funeral march surely reflects the hammer blow delivered to Stanisław as he arrives home to find his lover dead. The love theme is presented, uncharacteristically, by the bass clarinet from bar 272 in a sinister setting full of foreboding, before bursting forth again from bar 302 in a section marked "con passione": is this perhaps Stanisław's moment of triumph, as he receives the Pope's blessing? Maybe; maybe not. It is all too easy to impose this sort of program, without any proof of what was actually in the composer's mind at any given moment. At the very end of the work, in a brilliant piece of writing (from bar 415), a desolate and plaintive theme, not previously heard, is presented by the oboe, the instrument that originally had announced the love theme so much earlier.
Stanisław i Anna Oświeçimowie has been recorded as part of a boxed set of all of Karłowicz's symphonic poems on Chant du Monde LDC 278966/67, with the Silesian Symphony Orchestra conducted by Jerzy Salwarowski
John Wagstaff, 2011
With thanks to Marek Sroka for his help with Polish material.
For performance parts contact Polskie Wydawnictwo Muzyczne [PWM]. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.