Louis Spohr
(geb. Braunschweig, 5. April 1784 - gest. Kassel, 22. Oktober 1859)
Des Heilands letzte Stunden
Im Jahre 1833, sieben Jahre nach der Fertigstellung des sehr erfolgreichen Oratoriums Die Letzten Dinge auf einen Text, den Johann Friedrich Rochlitz zusammenstellte, besuchte Louis Spohr den Librettisten in seinem Heim in Leipzig. Während dieses Aufenthalts schlug Rochlitz vor, Spohr möge ein weiteres seiner Libretti mit dem Titel Das Ende des Gerechten vertonen. Am Ende des Besuchs erklärte sich Spohr einverstanden, den Text durchzuschauen und nahm eine Kopie an sich. Im darauffolgenden Sommer begann Spohr, ernsthaft an dem Oratorium zu arbeiten, und im Herbst 1834 hatte er fast das gesamte Werk vollendet, ohne Rochlitz je davon informiert zu haben, dass er überhaupt mit der Arbeit begonnen habe. Es ist nicht bekannt, warum er seine Arbeit von Rochlitz fern hielt: War es, um eine weitere enge Zusammenarbeit mit dem Librettisten zu vermeiden, wie er sie bei Die Letzten Dinge erlebt hatte? Oder wollte er vielleicht die Zweisamkeit schützen, die er mit seiner Frau erlebte, während er an der Arbeit war - wegen ihres schlechten Gesundheitszustands eine Zweisamkeit von grosser Dringlichkeit (seine Frau sollte noch vor der Premiere des Stückes sterben). Welcher Grund auch immer vorlag, so erzeugte Spohrs Geheimniskrämerei eine Spannung zwischen dem Komponisten und dem Texter, in die sich darüberhinaus die Tatsache mischte, dass Rochlitz, als Spohr sein Werk vollendet hatte, den Text überarbeiten wollte. (1)
Innerhalb der Komposition machte sich diese Spannung an der Rolle des Jesus bemerkbar. Rochlitz hatte sich vorgestellt, dass Jesus statt durch eine Solostimme durch einen Männerchor dargestellt werden sollte. Dem widersprach Spohr, stur wies er auf Bachs Matthäuspassion als Präzedenzfall, gewann schliesslich den Streit, und so wurde in dieser Form Des Heilands Letzte Stunden in Kassel im Jahre 1835 uraufgeführt. In der Praxis aber hatte Spohrs Entscheidung bezüglich der Rolle des Christus ihren Preis. In England zum Beispiel musste sich der Komponist mit erheblichem Widerstand wegen der Darstellung Jesu auseinandersetzen. Ein Kritiker schrieb in der London Times über eine Vorstellung im Juli 1852, die auch Spohr besuchte: “Es verstösst gegen die religiösen Gefühle in diesem Land, Jesus deklamieren und singen zu lassen ...” So wurde die Rolle geändert, und Johannes, der Apostel übernahm den Part.
Insgesamt ist das Oratorium sehr interessant auf Grund der Tatsache, dass es einige traditionelle Klischees des Genre vermeidet. Zum Beispiel verfügt Des Heilands Letzte Stunden über eine wesentlich stärkere dramatische und erzählerische Organisation, die sich aus Bachs Passion ableitet. Dies lässt sich sehr deutlich in der fugalen Ouvertüre und der laufenden Bassfigur in der vierten Nummer sehen, Judas’ Solo “Weh! Judas Weh über dich.” Einen sehr kraftvollen dramatischen Moment findet man in Spohr Vertonung der Gerichtsszene. Nachdem ein Chor aus Priestern und Volk Jesus anklagt “Sie sind Nazaräner, ir’discher Weisheit voll!”, fällt die Dynamik abrupt vom forte ins piano, und alle Stimmen bis auf das Alt verstummen mit einem dunklen, unschuldigen Ruf “Kaiphas, Kaiphas, rede!”. Es sind erschreckende Momente wie diese, die Spohrs Oratorien zu einigen der am meisten unterschätzten Werke des 19. Jahrhunderts machen.
Die formale Organisation der einzelnen Nummern ist der von Die Letzten Dinge sehr ähnlich, insbesondere sind auch hier die einzelnen Nummern recht kurz. Sie sind nicht zum unabhängigen und autonomen Gebrauch ausserhalb ihres Zusamenhangs gedacht, wie es bei der Nummernoper der Fall ist, sondern reflektieren besondere Momente, wenn ein stilistisches Genre auftaucht oder eine Sektion eine besondere formale Funktion erfüllt. Als solche sind Rezitative mit Übergangsfunktion (alle begleitet) oft von den folgenden Arien getrennt, und viele Nummern enden mit einer kurzen Übergangssektion, die das Folgende vorbereitet. So besteht zum Beispiel Nr. 26 “Er denkt an mich” aus nur 12 Takten, die die kurze, langsame und ziemlich konventionelle ternäre Form Romanza für Maria vorbereitet (Nr. 27, “Rufe aus der Well voll Mängel”).
Von Spohrs Oratorien und Opern weist Des Heilands Letzte Stunden den geringsten Grad an thematischer Geschlossenheit auf. Eine Ausnahme bildet die Ouvertüre, die dreimal durch jene Musik unterbrochen wird, die im späteren Verlauf den Text “Er war der Christ, der Sohn des Hochgelobten” begleiten wird. Trotz dieses Beispiels weist das Werk nicht das gleiche Level an thematischer “Erinnerung” auf, wie es sonst charakteristisch für Spohr ist. Aus harmonischer Perspektive ist das Werk in Fragen der Tonarten progressiv, es bewegt sich vom c - Moll der Ouvertüre zum Schlusschor in C - Dur, und es scheint ein gewisses Mass an tonaler Allegorie in seinem Ausdruck zu tragen. Vor allem wird dies deutlich im zweiten Teil, in dem der furchterregende Chor in C - Dur / c - Moll Priester und Volk beschreibt (No. 32 “Welch drohend Ungewitter”), die vor Gottes Zorn fliehen. Diese Nummer ist umgeben von Abschnitten mit fünf Kreuzen (No. 30 “In seiner Todesnoth”) und fünf B’s (No. 34 “Er war der Christ”), den von des Werks Haupttonart C - Dur am weitesten entfernte Tonarten.
Letztendlich errang Des Heilands Letzte Stunden nie einen ähnlichen Zuspruch wie Die Letzten Dinge, obwohl es zu einem weiteren Kompositionsauftrag für seinen Komponisten führte (Der Fall Babylons,1842). Dies schmälert nicht die Tatsache, dass diese Komposition ein wichtiges Dokument für die Dramaturgie eines der erfolgreichsten dramatischen Komponisten im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts bleibt und es Wert ist, als selbständiges Werk studiert zu werden.
Joseph E. Morgan, 2011
(1) Clive Brown, Louis Spohr: A critical biography, Cambridge; Cambridge University Press, 1984
Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an Novello,, London. Nachdruck eines Exemplars aus der Bibliothek des
Conservatoire de musique Genève, Genf.
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Louis Spohr
(b. Braunschweig, 5 April 1784 - d. Kassel, 22 October 1859)
Des Heilands letzte Stunden
In 1833, seven years after composing his highly successful Die Letzten Dinge (The Final Judgment) to a text assembled by Johann Friedrich Rochlitz, Louis Spohr visited Rochlitz at his home in Leipzig. During the visit, Rochlitz suggested that Spohr should set another one of his librettos, this one titled Das Ende des Gerechten. At the end of the visit, Spohr agreed to look the libretto over and took a copy with him. The next summer Spohr began composing the oratorio in earnest and by the fall of 1834 he had nearly completed the entire work without even informing Rochlitz that he had begun. It is unclear why Spohr kept his work from Rochlitz: Was it in order to avoid another extensive collaboration with the librettist as he had experienced with Die Letzten Dinge? Or perhaps the composer wanted to protect the intimacy he was experiencing with his wife as he worked on the project—an intimacy made urgent by her failing health (she would die before the premiere)? Whatever the reason, Spohr’s secrecy created a tension between the composer and librettist that was compounded by the fact that as Spohr finished the composition Rochlitz was revising its text.
In the work, one particular difficulty that emerged from this tension is in the part of Jesus Christ. Rochlitz thought that it should be performed by male chorus instead of a solo voice. Disagreeing, Spohr stubbornly cited Bach’s St. Matthew Passion as precedence and eventually won out and the work was premiered as Des Heilands Letzte Stunden in Cassel, 1835. In performance, however, Spohr’s decision regarding Christ had its price. In England, for example, the composer ran into a good deal of resistance to the musical embodiment of Christ. As a reviewer wrote in the London Times about a performance (that was attended by Spohr) in July of 1852, “Since it would run counter to the religious notions of this country were Jesus made to declaim and sing….” Thus the score was altered so that the part was sung instead by the character John, the Apostle.
In all, the oratorio is very interesting in the way that it avoids some of the traditional characteristics of the genre. For example, Des Heilands Letzte Stunden carries a much stronger dramatic and narrative organization that hearkens back to Bach’s Passions. These are particularly evident in the fugal Overture and the running bass figure in the 4th number, Judas’ solo “Weh! Judas Weh? über dich.” One particularly powerful dramatic moment is Spohr’s setting of the trial scene. After the Chorus of Priests and People accuse Christ: “Sie sind Nazaräner, ir’discher Weisheit voll!” (They are Nazarenes, full of deceit and pride!), the dynamics shift abruptly from forte to piano and all but the altos drop out in a darkly innocent call “Kaiphas, Kaiphas, rede!” (Caiaphas, Caiaphas, Judgement!). It is terrifying moments like these that make Spohr’s oratorios some of the most underestimated works of the 19th century.
The formal organization of individual numbers is quite similar to that of Die Letzten Dinge, specifically in that the numbers are rather brief. They are not meant to be considered independent or autonomous as they would be in a number opera, but instead reflect moments when a stylistic genre emerges or when a section performs a formal function. As such, transitional recitatives (all accompanied) are often separated out from the following arias, and many numbers end with brief transitional sections that prepare the next. For example, the 26th number, “Er denkt an mich” is a mere 12 measures in length, preparing for the brief, slow and rather conventional ternary form Romanza for Mary that follows (No. 27, “Rufe aus der Well voll Mängel”).
Of Spohr’s oratorios and operas, Des Heilands Letzte Stunden contains the lowest level of thematic coherence. One exception is the overture, which is interrupted three times by music that later sets the text “Er war der Christ, der Sohn des Hochgelobten.” Despite this, the entire work does not carry the same level of thematic reminiscence that characterize Spohr’s other works. From a harmonic perspective, the work is modally progressive, proceeding from the overture’s C minor to the ending chorus in C major and it seems to bear a certain level of tonal allegory in its expression. This is particularly evident in the second part in which the terrifying chorus in C major/minor depicts the Priests and People (No. 32 “Welch drohend Ungewitter”) fleeing God’s wrath. This number is surrounded by numbers with five sharps (No. 30 “In seiner Todesnoth”) and five flats (No. 34 “Er war der Christ”), the two furthest keys from the works primary key of C major.
Finally, in its reception Des Heilands Letzte Stunden never achieved the level of acclaim the Die Letzten Dinge enjoyed, although it did lead to a commission for another oratorio for its composer, (Der Fall Babylons in 1842). This does not lessen that fact that this work remains an important document of the dramaturgy of one of the most prolific dramatic composers of early 19th century Germany and worthy of study in its own right.
Joseph E. Morgan, 2010
(1) Clive Brown, Louis Spohr: A critical biography, Cambridge; Cambridge University Press, 1984
For performance material ask Novello, London. Reprint of a copy from the library of the Conservatoire de musique Genève, Geneva.
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