Albert Roussel
(geb. Tourcoing, 5. April 1869 — gest. Royan, 23. August 1937)

Psaume LXXX (Psalm 80) op. 37 pour ténor, chœur mixte et orchestre (1928)

Vorwort
Albert Charles Paul Marie Roussel wurde am 5. April 1869 im nordfranzösischen Tourcoing geboren. Nachdem er schon im frühen Kindesalter von mehreren Schicksalsschlägen heimgesucht wurde – innerhalb weniger Jahre verstarben sowohl sein Vater, seine Großeltern und auch seine Mutter Louise – wurde er ab 1879 von seiner Tante Eugénie Réquillart großgezogen. Obwohl frühe Musikstunden, Klavier- und Orgelunterricht auf eine große musikalische Begabung hindeuteten, entschied sich Roussel dafür, eine Offiziersausbildung bei der Marine aufzunehmen. Im Zuge dieser 1887 an der École navale begonnenen Ausbildung bereiste er in den folgenden Jahren die Weltmeere, besonders häufig den Nahen Osten. Auf diesen Reisen kam er mit der Musik anderer Kulturen in Kontakt – ein wichtiger Einfluss für seine späteren Kompositionen. Zudem beschäftigte er sich intensiv mit den Grundzügen der Musiktheorie und Harmonielehre. In den Jahren 1893/1894 nahm er private Musikstunden bei Julien Koszul. 1894 entschloss sich Roussel schließlich dazu, Komponist zu werden. Er nahm Abschied von der Marine und studierte bei Eugène Gigout in Paris. Da er für ein Studium am Conservatoire zu alt war, schrieb er sich 1898 an der Schola Cantorum ein und studierte dort vier Jahre lang unter Vincent d'Indy. Nach Beendigung seines Studiums wurde er zum Lehrer für Kontrapunkt ernannt – eine Position, die er bis 1914 inne hatte. Zu seinen Schülern zählten dabei unter anderem Jean Martinon, Erik Satie, Alexis Roland-Manuel und Edgar Varèse. 1908 heiratete Roussel Blanche Preisach und reiste mit ihr im darauf folgenden Jahr durch Indien und Indochina. Seine auf dieser Reise gesammelten Eindrücke ließ er in das symphonische Tryptichon Évocations (1910-11) und in das Opernballett Padmâvatî (1914-18) einfließen. Während des Weltkrieges diente Roussel nach einer Tätigkeit beim Roten Kreuz als Transportoffizier und schied im Januar 1918 aus dem Dienst. Nachdem sein Stil in den ersten Jahren seiner kompositorischen Tätigkeit noch sehr von der impressionistischen Tonsprache beeinflusst war, wandte sich Roussel ab den zwanziger Jahren einem klareren, knapperen und präziseren Stil zu. 1929 wurde anlässlich des sechzigsten Geburtstages des Komponisten ein großes Festival ausgerichtet, das die Bedeutung Roussels für das französische Musikleben verdeutlichte. Die letzten Jahre seines Wirkens waren von seiner zunehmend schlechteren Gesundheit geprägt, bis er schließlich am 23. August 1937 in Royan starb.

Eine Sonderstellung im etwa sechzig Werknummern umfassenden Œuvre des Komponisten nimmt der 80. Psalm ein. Roussel vertonte von August bis September 1928 die Bibelverse und widmete das Werk der belgischen Königin Elisabeth. Dabei griff er auf eine englische Textversion des Psalms nach der anglikanischen Bibelübersetzung zurück. Für Roussel, der Zeit seines Lebens Agnostiker war, stand nicht die religiöse Bedeutung des Psalms im Vordergrund – ihn inspirierten eher der dramatische Gehalt und die Allgemeingültigkeit der Bibelworte.

Textlich gesehen handelt es sich bei Psalm 80 um einen Klagepsalm. Das Volk Israel versteht seinen Gott Jahwe nicht mehr, der es erst aus Ägypten gerettet und nun scheinbar verlassen hat. Im Bild vom Weinstock wird die einstige Herrlichkeit des Volkes ausgedrückt: Von Jahwe eingepflanzt, hatte sich der Weinstock auf wunderbare Weise ausgebreitet. Jetzt jedoch hat Gott die schützenden Mauern eingerissen, sodass wilde Tiere (bildhaft für die Nachbarvölker Israels) den Weinstock abfressen und verwüsten können. Das Volk fleht Jahwe daher um Erbarmen an – er soll sich seinem Volk wieder zuwenden und es vor dem Verderben retten.

Dissonante Akkorde eröffnen den Psalm (Maestoso). Der Chor stimmt mit dem dreimaligen Ausruf "Give ear" in diese Dissonanzen mit ein – die Klage beziehungsweise das Flehen des Volkes Gottes treten in diesem Abschnitt sehr deutlich zu Tage. Für den Verlauf des gesamten Psalmes ist eine Melodie besonders bedeutsam: Eine aufsteigende Folge von fünf Tonschritten innerhalb einer Quinte ("Turn us again, O God", Andantino).

Der nächste größere Abschnitt des Psalmes ist mit Andante überschrieben. Die Worte des Solotenors rufen die glückliche, ruhmreiche Vergangenheit des Gottesvolkes ins Gedächtnis – eine pastoral anmutende Szene. Die Chorstimmen setzen nun nach und nach Vokalisen singend ein, das musikalische Klanggeflecht wird immer komplexer (Andantino). Roussel verwendet eben dieses Gestaltungsmittel, um den Inhalt des Textes auch in der Musik umzusetzen: Die Rede ist vom Weinstock, der seine Ranken bis hin zum Meer ausgetrieben hat. Musikalisch bedeutsam ist dabei auch das erneute Auftauchen des Fünftonmotives vom Anfang, diesmal im dreifachen Forte.

Ein abrupter Stimmungswechsel beendet die eben noch idyllische Szenerie (Allegro molto). Dissonante Bläserfanfaren eröffnen den neuen Abschnitt des Psalmes, daraufhin setzt wiederum der Solotenor ein. Dieser ist es auch, der schließlich der innigen Bitte nach Schutz und Fürsorge des Volkes Israel durch Jahwe Ausdruck verleiht ("Let thy hand", Moderato).

Der Psalm schließt leise und friedvoll: Dem Bittgesuch des Tenors schließt sich der gesamte Chor an, der am Schluss wieder das bekannte Fünftonmotiv intoniert und im Pianissimo auf einem H-Dur-Akkord den Psalm beendet ("Turn us again, O Lord", Lento).

Die erste Aufführung des Psalms fand am 25. April 1929 im Théâtre National de l'Opéra in Paris statt. Das Orchester Lamoureux und der Chor der Schola de Nantes musizierten unter der Leitung von Albert Wolff, Georges Jouatte übernahm die Tenorpartie. Im Druck erschien das Werk bereits 1929 beim amerikanischen Verlagshaus C.C. Birchard.

Konstantin Galluhn, 2011

Aufführungsmaterial ist von Edwin F. Kalmus, Boca Raton zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars aus der Bibliothek des Conservatoire de musique Genève, Genf.

Albert Roussel
(b. Tourcoing, 5 April 1869 — d. Royan, 23 August 1937)

Psaume LXXX (Psalm 80) for tenor, mixed chorus and orchestra, op. 37 (1928)

Preface
Albert Charles Paul Marie Roussel was born in the northern French town of Tourcoing on 5 April 1869. Having suffered a number of severe setbacks in early childhood (his father, grandparents, and mother Louise all died within the space of a few years), he was raised by his aunt Eugénie Réquillart from 1879 on. Although he revealed a great talent for music in his early piano and organ lessons, he chose to train for the career of a naval officer and enrolled at the École Navale in 1887. As part of his training, he criss-crossed the oceans of the world in the years that followed, paying especially frequent visits to the Middle East. These travels brought him into contact with the music of other cultures, which would later have a signal influence on his own music. He also made a deep study of the foundations of music theory and harmony. After taking private lessons from Julien Koszul in 1893-94, he decided in 1894 to become a composer, resigning his naval commission and studying with Eugène Gigout in Paris. Being too old to attend the Conservatoire, he enrolled at the Schola Cantorum in 1898, where he spent four years studying with Vincent d'Indy. On completing his studies he was appointed teacher of counterpoint at the Schola – a position he held until 1914. Among his pupils were Jean Martinon, Erik Satie, Alexis Roland-Manuel und Edgard Varèse. In 1908 he married Blanche Preisach, with whom he traveled through India and Indochina the following year. The impressions he gathered on this journey found their way into his symphonic triptych Évocations (1910-11) and the opera-ballet Padmâvatî (1914-18). During the Great War, he served as a transport office with the Red Cross, leaving the service in January 1918. In his early years as a composer, his style was heavily influenced by French Impressionism; later, in the 1920s, he developed a more terse, sinewy, accurate style. On the occasion of his sixtieth birthday in 1929 a large-scale festival was held to illustrate his importance to French music. His final years were marked by increasing ill-health, and he died in Royan on 23 August 1937.

Psaume LXXX occupies a special place among the roughly sixty works in Roussel's oeuvre. He set the Biblical verses in August and September 1928 and dedicated the work to Queen Elisabeth of Belgium. For his text, he used an English version taken from the Anglican translation of the Bible. For Roussel, a lifelong agnostic, the psalm's religious significance was not of primary importance; rather, he was inspired by the dramatic nature and general validity of the Biblical text.

Psalm 80 is a psalm of lamentation. The people of Israel no longer understand their God Yahweh, who seemingly rescued them from Egypt only to abandon them. Their former glory is captured in the metaphor of a vine: once planted by Yahweh, it spread miraculously; then God tore down the protecting walls, allowing wild beasts (symbolizing Israel's neighbors) to devour the vines and lay waste to the vineyards. The people implore God for mercy: He should return to his people and save them from perdition.

The work opens with dissonant chords (Maestoso) into which the chorus intones the threefold cry "Give ear," clearly focusing on the lamentation or imploration of God's people. One melody – an ascending series of five scalar steps spanning a fifth – becomes highly important for the further progress of the piece ("Turn us again, O God," Andantino).

The next large section is marked Andante. The words of the solo tenor recall the happy and glorious days of the people's past – a scene of pastoral grace. Now the chorus gradually enters, singing wordless vocalises, and the texture becomes increasingly complex (Andantino). Roussel uses this device to lend musical expression to the words, which speak of the vine that has sent out its branches as far as the sea. Once again, the recurrence of the opening five-note motif becomes significant, this time in triple forte.

The idyllic scene ends with an abrupt change of mood (Allegro molto). The new section opens with dissonant fanfares in the winds, followed again by the solo tenor, who finally pleads for Yahweh's care and protection of his people ("Let thy hand," Moderato). The piece ends quietly and peacefully. The tenor's supplication is followed by the full chorus, which again takes up the familiar five-note motif and ends the piece pianissimo on a B major chord ("Turn us again, O Lord," Lento).

Psaume LXXX was given its first performance at the Théâtre National de l'Opéra, Paris, on 25 April 1929. Alfred Wolff conducted the Orchestre Lamoureux and the chorus of the Schola de Nantes, and Georges Jouatte sang the tenor part. The work was issued in print as early as 1929 by the American publisher C.C. Birchard.

Translation: Bradford Robinson

For parts please contact Kalmus, Boca Raton (http:www.kalmus-music.com). Reprint of a copy from the library of the Conservatoire de musique Genève, Geneva.