Michail Ivanovich Glinka
(geb. 20. Mai [1. Juni] 1804, Nowospasskoje/Smolensk — gest. 3. [15] Februar, Berlin)

Grosses Sextett
(Sestetto originale) in Es - Dur

Glinka wurde auf einem Anwesen nahe Smolensk geboren. Als Sohn eines Grundbesitzers konnte er auf ein Vermögen zurückgreifen und sich seiner Leidenschaft für die Musik widmen. Als Kind war ein begeisterter Hörer aller Arten von Musik, aber Musikunterricht erhielt er nur während seiner Schulzeit in St. Petersburg. Mit 18 Jahren beendete er die Schule und verweigerte sich erfolgreich dem Wunsch seines Vaters, eine Diplo-matenlaufbahn einzuschlagen. Stattdessen liess er sich in der Gesellschaft von Russlands Hauptstadt nieder und genoss einen guten Ruf als Sänger und Pianist. Durch private Studien hatte er sein Können als Komponist verbessert, aber er fühlte sich weiterhin unsicher und setzte seinen Unterricht fort. Da ihm eine musikalische Unterweisung ausserhalb Russlands als besser erschien, verliess er im April 1830 seine Heimat für eine ausgedehnte Reise mit dem Tenor N. K. Iwanow, dem man eine zweijährige Auszeit von seiner Tätigkeit bei der Königlichen Kapelle gewährt hatte. Die Gefährten reisten mit der Kutsche und liessen sich schliesslich in Mailand nieder. Obwohl Glinka dort Unterricht von Francesco Basili, dem Direktor des Konservatoriums erhielt, empfand er ihn nicht als produktiv. Auch hatte er dort Gelegenheit, eine Reihe von wichtigen Komponisten zu treffen, darunter Felix Mendelssohn-Bartholdy. Seine Bekannt-schaft mit Donizetti und Bellini erwiesen sich aber als fruchtbarer. Er war inzwischen vertraut mit deren Stil und schrieb einige Variationen über berühmte Melodien dieser Komponisten. Die Stücke wurden in den gesellschaftlichen Kreisen gespielt, in denen sich Glinka bewegte, und er komponierte einige Werke und Lieder, die in den Salons gespielt wurden. Da er ein erfahrener Pianist war, fühlte er sich mehr zum Komponieren von Kammermusik mit Klavier hingezogen denn zu Werken nur mit Streichern. Gewöhnlich fügte er seinen Kompositionen einen Kontrabasszur Klangbalance hinzu, wie auch in vorliegendem Sextett geschehen.

Nach einem Jahr Aufenthalt reisten Glinka und Iwanow weiter gen Süden nach Neapel, wo der Sänger beab-sichtigte, seine musikalische Ausbildung zu vollenden. Im Frühling 1832 kehrte Glinka für ein weiteres Jahr nach Neapel zurück. Als er krank wurde, behandelte ihn ein Doktor De Filippi. Dessen Tochter war ein attraktives Mädchen und zudem eine brilliante Pianistin. Glinka war von ihrer Schönheit gefangen und komponierte das Das Grosse Sextett (Sestetto originale) in Es - Dur mit ihrem Bild vor Augen. Leider endete ihre Affäre, bevor das Sextett vollendet war, weshalb die Komposition ihrer Freundin Sophia Medici gewidmet wurde. Im August 1833 verliess Glinka Italien und reiste zu Studien nach Wien und Berlin. Im darauffolgenden März musste er nach Russland zurückkehren, denn sein Vater war plötzlich gestorben.

Normalerweise identifiziert man Glinka mit originärer russischer Musik. Dennoch steht sein erstes Hauptwerk, das Sextett für Klavier und Streicher (Streichquartett mit einem hinzugefügten Kontrabass) streng in deutscher Tradition. Ein mögliches Vorbild, an dem man Glinkas Werk messen könnte, war Mendelssohns op. 110 für die gleichen Instrumente (obwohl Mendelssohn eine Geige und zwei Bratsche benutzte). Statt wie ein kammermusikalisches Werk zu klingen erinnert das Sextett bisweilen eher an ein Konzert. Wie offensichtlich beabsichtigt bietet die Komposition dem Pianisten ausreichend Gelegenheit, ihre / seine Virtuosität zu demonstrieren. Obwohl nicht uninteressant, ist der Streicherpart in der Hauptsache geschrieben, um das Klavier zu begleiten. Der lange und kraftvolle erste Satz ist ein Allegro in der Sonatenform. Der zweite Satz, eine Bacarolle in der Mediantentonart, führt unmittelbar in das lebhafte Finale über (allegro con spirito).

Giovanni Ricordi veröffentlichte Glinakas Kammermusik wie auch viele seiner Lieder und Klavierstücke. In Russland wurde das Sextett nur 1881 von P. Jürgenson verlegt und in seiner Gesamtausgabe nachgedruckt (Band IV, Seite 81 - 169, Leningrad 1955 - 69).

Glinka schuf seine Kammermusik und Lieder als junger Mann. Nach seiner Rückkehr in die Heimat komponierte er nur noch Oper und symphonische Musik. Zu Recht brachten ihm seine zwei Opern und die reifen Orchesterwerke (veröffentlicht von Musikproduktion Höflich) den verdienten Ruhm ein. Glinka war der erste Komponist, dessen Werke mit dem westlichen Standard zu vergleichen waren und auch als solche von seinen Zeitgenossen in Ost und West anerkannt wurden. Er war eine Quelle der Inspiration für Tschaikowsky und die Mitglieder dessen "Mächtigen Häufleins", die zum Zeitpunkt der Komposition des Sextetts noch nicht geboren waren. Glinka begegnete Berlioz zufällig in Rom im Jahre 1831, aber lernte dessen Musik erst kennen, als er ihn zehn Jahre später in Paris wiedertraf. Auch begenete er Dargomyzhsky, ebenfalls "Amateur" - Komponist, erst nach seiner Rückkehr nach Russland.

Glinkas Kammermusik erfreute sich nie besonderer Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich, weil sie niemand ernsthaft nicht als typisch russisch bezeichnen kann. Das aber sollte niemanden davon abhalten, sich an seinem Grossen Sextett als eigenständigem Werk zu erfreuen.

Willem G. Vijvers © 2011

Aufführungsmaterial ist von Ricordi, Mailand zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Mikhail Ivanovich Glinka

(b. 20 May [1 June] 1804, Nowospasskoje/Smolensk
— d. 3 [15] February, Berlin)

The Grand Sextet
(Sestetto originale) in E-flat major

Glinka was born on an estate near Smolensk. Son of a wealthy landowner, he was a man of independent means, free to indulge in his passion for music. As a child he was delighted to hear all kinds of music, but only during his school days in Petersburg he got some tuition. At the age of eighteen he finished school and successfully resisted his father's wish that he should enter Foreign Service. The young Glinka settled down in the capital's society and was well reputed as singer and pianist. By private study he increased his skill as a composer, although he felt insecure and took further lessons. Tuition abroad appeared to be better than in Russia and in April 1830 he left for an extended trip with the tenor N.K. Ivanov, who had obtained a two-year's leave from the Royal Chapel. The travelling companions travelled by coach and eventually settled in Milan. There Glinka took lessons from Francesco Basili, the conservatory director, but did not found these lessons productive. He happened to meet met a number of important composers, including Felix Mendelssohn-Bartholdy. His acquaintance with Donizetti and Bellini proved more fruitful. He was already familiar with their style and now wrote several sets of variations on famous melodies by these composers. These were played in the society circles where Glinka moved and he provided a number of pieces and songs to be performed in the drawing room. Being an accomplished pianist he felt more at ease in composing chamber music with piano than in works for strings only. Usually, he included a double bass to balance the sound, as he did in the present sextet.

After a year Glinka and Ivanov travelled further south to Naples, where the singer was to complete his musical education. In the spring of 1832 Glinka returned alone to Milan, where he spent another year. When he fell ill, a doctor De Filippi treated him. The doctor's daughter was an attractive girl and a brilliant pianist. Glinka was captivated by her beauty and composed The Grand Sextet (Sestetto originale) in E-flat major with her in mind. Sadly, their romance came to an end before his sextet was finished. So, the piece was dedicated to her friend, Sophia Medici. In August 1833 Glinka left Italy to study in Vienna and Berlin. Next March he had to return to Russia as his father had suddenly died.

We usually associate Mikhail Glinka with genuinely Russian music. However the sextet for piano and strings, (string quartet with an added contrabass), his first major work, stands firmly in the German tradition. One possible model was Mendelssohn's op. 110 for the same instruments (although Mendelssohn used one violin and two violas), to which it measures up. Rather than a piece of chamber music, the sextet sounds at times more like a kind of concerto. As obviously intended, it offers the pianist ample occasion to display her/his virtuosity. The string parts, although not without interest, are mainly written to support the piano. The long, powerful first movement is an allegro in sonata form. The second movement, a barcarolle in the mediant key, leads directly into the lively finale (allegro con spirito).

Giovanni Ricordi published Glinka's chamber music, and several of his songs and piano pieces as well. This sextet was printed in Russia only in 1881 (by P. Jurgenson). It was reprinted in volume IV, page 81-169 of the Complete Works, published in Leningrad, 1955-1969.

Glinka wrote chamber music and songs as a young man. He only embarked on opera and symphonic music after his return to Russia. Glinka's two operas and his mature orchestral works (scores published by Musikproduktion Höflich) rightly brought him fame. He was the first one whose works reached the level of contemporary Western composers and was recognised as such by his fellow-countrymen and his foreign colleagues. Glinka was a source of inspiration to Tchaikovsky and the members of "The Mighty Five", who were not yet born when he wrote this sextet. Glinka met Berlioz accidentally in Rome in the autumn of 1831, but did not get to know any of his music until ten years later when he met him again in Paris. He first met his fellow amateur-composer Dargomyzhsky only after his return from abroad.

Glinka's chamber music has never enjoyed much attention. Presumably, because it cannot with the best will in the world be called typically Russian. Nevertheless, that need not distract us from enjoying Glinka's Grand Sextet in its own right.

Willem G. Vijvers © 2011

For performance material please contact the publisher Ricordi, Milano. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.