Mily Alexejewitsch Balakirev
(b. Nischni-Nowgorod, 2. Januar 1837 - gest. St. Petersburg, 29. Mai 1910)

Russland Symphonische Dichtung |(1863-1907)

Vorwort
Balakirevs einsätzigen Orchesterwerke (Ouvertüren und symphonische Dichtungen) haben bei aller Unterschiedlichkeit in der musikalischen Gestaltung doch eines gemeinsam: erstaunlich lange Entstehungsgeschichten, die mehrere Jahrzehnte umfassen. Auch das vorliegende Werk ist hier keine Ausnahme, doch im Gegensatz zu den anderen Werken existieren von der symphonischen Dichtung "Russland" auch drei verschiedene Druckfassungen unterschiedlicher Verlage.
Im Jahr 1862 hatte Balakirev mit Gawriil Lomakin zusammen in Sankt Petersburg die "Musikalische Freischule" gegründet, eine Musikschule, an der jeder kostenfrei einen fundierten, national ausgerichteten und - in bewusster Abgrenzung zum eher westlich orientierten Konservatorium - unakademischen Unterricht erhalten konnte. Balakirev, der aus einfachen Verhältnissen stammend sich in seiner Jugend notgedrungen viele musikalische Fähigkeiten autodidaktisch aneignen musste, genoss hohes Ansehen in Bezug auf seine musikpädagogischen Fähigkeiten. Er war auch eine Art Mentor des sog. "Mächtigen Häufleins", zu dem außer ihm noch seine fast gleichaltrigen, aber anfangs im Komponieren vergleichsweise unerfahrenen "Schüler" Rimski-Korsakow, Borodin, Mussorgski und Cui gehörten. Während sich Lomakin als Leiter dieser Musikschule vorwiegend um die Chorarbeit kümmerte, oblag Balakirev – formal zunächst als fast sechsundzwanzigjähriger nur "Assistent"- die Orchesterarbeit. Die Arbeit beflügelte Balakirev, und angeregt durch die erfolgreiche Aufführung einer Ouvertüre über drei russische Volkslieder, die schon 1857 entstanden war, entschloss sich Balakirev 1863 zu Komposition eines Schwesterwerks.
Auch diese neue Komposition entstand auf der Grundlage dreier Volksliedmotive, die Balakirev zuvor in einer Sammlung selber zusammengestellt hatte. Ende 1863 war der Kompositionsprozess abgeschlossen, im Januar 1864 stellte Balakirev die Instrumentation fertig. Unter dem Titel "Zweite Ouvertüre über drei Russische Themen" erfuhr das Werk am 6. April 1864 im Rahmen eines Konzerts an der "Musikalischen Freischule" seine Uraufführung. Gewidmet wurde die Ouvertüre Rimski-Korsakow.

Im Jahr 1869 nahm Balakirev die erste Revision des Werkes vor. Auslöser war die Möglichkeit einer Publikation, die auch im gleichen Jahr beim Petersburger Verlagshaus Johansen erfolgte. Der neue Titel lautete "1000 Let" (1000 Jahre) und sollte Bezug nehmen auf die 1862 begangenen Feiern zum tausendjährigen Bestehen Russlands. In dieser Fassung fand das Werk nur wenig Verbreitung, es war aber immerhin die erste Veröffentlichung eines großen Orchesterwerkes Balakirevs.
Ab 1869 hatten sich die Lebensumstände Balakirevs grundlegend verändert. Hierfür waren mehrere Faktoren ausschlaggebend. Zunächst entfremdeten sich Balakirevs Mitstreiter zusehends von ihrem einstigen Mentor. Ihrer "Schülerrolle" waren sie längst entwachsen, sie fühlten sich durch Balakirevs Ratschläge zunehmend bevormundet. Hinzu kamen finanzielle Probleme der "Musikalischen Freischule", nicht zuletzt bedingt durch fehlendes Geschick Balakirevs im diplomatischen Umgang mit seinen Mitmenschen und insbesondere den Geldgebern dieser Institution. Schließlich starb 1869 der Vater des Komponisten, und er sah sich in der Verantwortung, die Fürsorge für seine jüngeren Schwestern zu übernehmen. All diesen Verantwortungen nicht gewachsen stürzte Balakirev in eine tiefe Persönlichkeitskrise, entledigte sich all seiner musikalischen Posten, verlor völlig das Interesse an seinen Kompositionen, nahm diverse Gelegenheitsjobs an (z.B. bei der Warschauer Eisenbahngesellschaft) und flüchtete sich in eine streng orthodoxe Sekte.
Etwa fünf Jahre genehmigte sich der Komponist diese "Auszeit" von der musikalischen Gesellschaft, dann kehrte er überraschend zurück. Ab 1876 hatte er wieder Kompositions-schüler, und 1881 wurde er sogar wieder Direktor "seiner" Musikschule, wobei ihm auch diejenigen ehemaligen Mitstreiter aus Respekt und vielleicht auch Mitleid helfend unter die Arme griffen, von denen er sich Jahre zuvor abgewandt hatte.

Balakirev begann nun auch wieder zu komponieren, wobei bevorzugt liegengebliebene unvollendete Musikstücke, aber auch fertiggestellte unveröffentlichte Werke in Angriff genommen wurden. Im Rahmen dieser Tätigkeit unternahm Balakirev auch zwischen 1882 und 1884 eine zweite Revision der Ouvertüre, die trotz der schon erfolgten Drucklegung noch nicht nennenswert populär war. Aber erst 1887 fand sich mit dem Petersburger Verleger Bessel ein zweiter Abnehmer. 1889/90 erschien die neure Partitur, eine Neuauflage bei Bessel folgte im Jahr 1894. Der neue Titel lautete nun "Russland- Symphonische Dichtung". Vorangestellt war der Partitur ein Vorwort Balakirevs zur Entstehungsgeschichte des Werkes: "Die Enthüllung des im Jahre 1862 in Nowgorod zur Erinnerung an die Jahrtausend-Feier Russlands errichteten Denkmales gab die Veranlassung zur Komposition der symphonischen Dichtung "Russia", welche ursprünglich unter dem Titel "1000 Jahre" veröffentlicht wurde. Dem Werk sind drei Motive von Volksliedern aus meiner Sammlung zu Grunde gelegt, durch die ich drei Momente unserer Landesgeschichte zum Ausdruck bringen wollte: die heidnische Vorzeit, die Periode der Teilfürsten, aus welchem das spätere Kosakentum hervorging und das Moskowische Reich. Der Kampf dieser Elemente und dessen Ende durch den verhängnisvollen Schlag, welchen Peters I Reformen den russisch-nationalen Bestrebungen beibrachten, bilden den Inhalt des vorliegenden instrumentalen Dramas. In der neuen Ausgabe dieses Werkes habe ich die Instrumentierung umgearbeitet und einige Verbesserungen vorgenommen."
Nach allen überlieferten Quellen ist es aber sehr wahrscheinlich, dass diese inhaltliche Zuordnung erst viel später erfolgte, nachdem die Komposition bereits abgeschlossen war. Weder der ursprüngliche Titel als Ouvertüre noch die Korrespondenz des Komponisten lassen einen solchen programmatischen Zusammenhang glaubwürdig erscheinen, für das Verständnis dieser Musik sind die Angaben auch nicht unbedingt hilfreich.
1899 traf Balakirev erstmalig seinen "idealen" Musikverleger in Person von Julius Heinrich Zimmermann aus Leipzig, der fortan nicht nur die weiteren Werke Balakirevs veröffentlichte, sondern 1907 auch eine nochmals leicht veränderte Neuauflage von "Russland" in Partitur, Stimmen und vierhändigem Klavierauszug (bearbeitet von S. Ljapunov) besorgte. In dieser Form fand das Werk größere Verbreitung, und diese "Letztfassung" war auch die Grundlage für die 1966 erfolgte Publikation durch den Russischen Staatsverlag.

Bei einem Vergleich der Fassungen untereinander wird deutlich, dass sich die Revisionen im wesentlichen auf Veränderungen in den Begleitstimmen und auf die Instrumentation beschränkten, der eigentliche Kompositionsverlauf blieb weitestgehend unangetastet. Die drei Volksliedthemen werden ganz im Sinne einer Sonatenhauptsatzform verarbeitet, das erste Thema dient als langsame Einleitung, die beiden weiteren, etwas beschwingteren Themen ergänzen sich zu Haupt- und Seitenthema. Ein deutlicher Kontrast besteht schon allein durch die Verwendung nicht eben benachbarter Tonarten (b-moll/D-Dur). In der Durchführung werden alle drei Themen ganz im klassischen Sinne kunstvoll kombiniert und verarbeitet, hier trägt auch die von Fassung zu Fassung optimierte Instrumentation zu einer enormen Transparenz bei, denn trotz großer Orchesterbesetzung werden die Mittelstimmen nicht übertönt. Selbst dem kundigen Zuhörer erschließen sich alle Feinheiten erst nach mehrmaligem Anhören, die vorliegende Studienpartitur mag also eine willkommene Mitlesehilfe bieten.
Wolfgang Eggerking, 2011

Aufführungsmaterial ist von Zimmermann, Frankfurt zu beziehen. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Mily Alexeyevich Balakirev
(b. Nizhny-Novgorod 2 January 1837 – d. St. Petersburg, 29 May 1910)

Russia
Symphonic poem (1863-1907)

 

Preface
For all the differences in their musical design, Balakirev's single-movement orchestral works (overtures and symphonic poems) have one thing in common: an astonishingly long gestation lasting several decades. The present work, the symphonic poem Russia, is no exception, but unlike the others it exists in three conflicting printed versions from different publishers.
In 1862 Balakirev and Gavriil Lomakin formed the Free Music School in St. Petersburg, a school at which anyone could receive – free of charge – a solid, nationally-minded, non-academic music education that deliberately departed from the western bias of the Conservatory. Balakirev, who came from simple circumstances and was forced to acquire his musical skills in self-instruction during his youth, enjoyed a high reputation for his qualities as a teacher. He also functioned as a sort of mentor to the so-called "Mighty Handful," a group of five composers that included, besides himself, his comparatively inexperienced "pupils" and age-mates Rimsky-Korsakov, Borodin, Mussorgsky, and Cui. While Lomakin, the school's director, mainly took charge of the choral work, his "assistant" Balakirev, then nearly twenty six years old, was formally responsible for the orchestra. The work enflamed his imagination, and Balakirev, inspired by the successful performance of an overture based on three Russian folk songs that he had written as early as 1857, resolved in 1863 to compose a companion piece.
This new piece, too, was based on three folk-song motifs that Balakirev himself had gathered in a collection. The composition was completed in late 1863 and orchestrated in January 1864. Given the title Second Overture on Three Russian Themes and dedicated to Rimsky-Korsakov, it was premièred on 6 April 1864 during a concert at the Free Music School.

In 1869 Balakirev set about revising the work for the first time. His reason for doing so was the possibility of its publication, which duly took place that same year when the work was issued in print by the St. Petersburg publisher Johansen. The new title, 1000 Let ("One-Thousand Years"), referred to the millennial celebrations of founding of Russia in 1862. Though this version found little resonance, it was the first major orchestral work by Balakirev to appear in print.
Beginning in 1869 the circumstances of Balakirev's life underwent a radical change. Several factors were responsible for this. First, his comrades-in-arms, having outgrown their role as "pupils," had distanced themselves from their former mentor and increasingly considered his advice to be patronizing. Further, the Free Music School began to suffer financial difficulties, not least of all owing to Balakirev's clumsiness in dealing diplomatically with his fellow human beings, particularly the school's patrons. Finally, Balakirev's father died in 1869, and he found himself entrusted with the care of his younger sisters. Unequal to these responsibilities, he plunged into a deep personal crisis, abandoned all his musical positions, and completely lost interest in composing. He took on miscellaneous short-term employment (e.g. with the Warsaw Railway) and escaped to a rigidly orthodox religious sect.
After granting himself a roughly five-year "break" from the world of music, Balakirev surprisingly returned. By 1876 he again had composition students, and in 1881 he even became the director of "his" music school. His former comrades-in-arms, whom he had spurned years before, lent him a helping hand out of respect, and perhaps out of pity.

Once again Balakirev began to compose, preferring to return to pieces he had abandoned or to others he had completed but left unpublished. As part of this activity, he prepared a second revision of the overture (1882-84), which, despite that fact that it had already appeared in print, was not particularly popular. It was only in 1887 that a second publisher could be found in the form of the St. Petersburg house of Bessel. The new score was issued in 1889-90, followed by a second impression from Bessel in 1894. The title now read Russia: a Symphonic Poem, and the score was given a preface by Balakirev on the work's genesis: "The inauguration, at Novgorod, of the monument erected as a memorial of Russia's 1000th anniversary, in 1862, was the occasion of the composition of the present symphonic poem Russia, which in the first edition bore the title 1000 Years. The work is based on three motifs borrowed from my collection of Russian folk songs. In it I have attempted to express the three principal elements in our history: paganism, the period of princes and popular government that gave birth to the Cossack institutions, and the Muscovite Empire. The contest between these elements, that ended with the fatal blow struck against Russian national and religious tendencies by the reforms of Peter I, supplied the subject of this instrumental drama. In publishing a second edition, I found it necessary to remodel the orchestration and to emendate some passages."
According to all surviving sources, it is highly likely that this programmatic description did not arise until much later after the work was already finished. Neither the original title of the overture nor the composer's correspondence lends credence to this programmatic account, nor are Balakirev's remarks necessarily helpful for understanding the music.
In 1899 Balakirev met his "ideal" music publisher, Julius Heinrich Zimmermann of Leipzig, who from that moment on published not only his further works but issued a slightly altered new edition of Russia in score, parts, and a re-duction for piano four-hands by S. Lyapunov. This form met with greater acceptance, and it is this "definitive version" that served as the basis of the work's publication by the Russian State Publishing House in 1966.

A comparison of the three versions reveals that Balakirev's revisions were primarily limited to changes in the accompaniment parts and the orchestration, while the compositional fabric was left largely untouched. The three folk-song motifs are developed fully in keeping with precepts of sonata-allegro form: the first theme serves as a slow introduction, and the two others, slightly more buoyant, complement each other as the principal and secondary themes. A sharp contrast arises from Balakirev's use of distant keys (B-flat minor vs. D major). All three themes are artfully combined and manipulated in the classical manner in the development section. Here the orchestration, after being refined from one version to the next, achieves an impressive transparency, for despite the large orchestra the inner parts are never drowned out. Even experienced listeners will require several hearings to detect all the work's subtleties. In this sense, the present study score is intended to provide welcome assistance.
Translation: Bradford Robinson

For performance materials please contact Zimmermann, Frankfurt. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.