Michail Glinka
(geb. Novospasskoe, 1. Juni 1804 – gest. Berlin, 15. February 1857)

Ouvertüre g-Moll (S.7)
Ouvertüre D-Dur (S.35)

Vorwort
Bedenkt man, dass Michail Glinka als Urquell und Ahnvater der national-russischen Kompositionsschule allgemein anerkannt ist, genoss er eine überraschend lückenhafte musikalische Ausbildung. Auf die drei Klavierstunden, die er vom berühmten irischen Virtuosen John Field erhielt, zeigte er sich zeitlebens besonders stolz, wie auch auf die Tatsache, dass er einmal ein Klavierkonzert Hummels zur Zufriedenheit des Komponisten privat vorspielen durfte. Abgesehen vom Klavierunterricht, den ihm im Kindesalter eine Gouvernante erteilte, kamen jedoch seine prägenden musikalischen Erfahrungen offensichtlich aus zwei ganz anderen widersprüchlichen Richtungen: aus seiner Arbeit mit einem Leibeigenenorchester, das sein Onkel in der Nähe des elterlichen Landguts unterhielt, sowie aus der langen Reise, die er 1823 in den Kaukasus unternahm, angeblich um Erholung von seinen vielen, meist eingebildeten Krankheiten zu suchen, eigentlich jedoch um die Musik und Tänze der einheimischen tscherkessischen Bevölkerung zu erleben. Letzerem verdankte er seine lebenslange Hingabe und Affinität zu volkstümlichen Sujets und Personen, die sich in den beiden großen Opern Iwan Sussanin (1836) und Ruslan und Ljudmila (1842) niederschlug. Vo Ersterer gewann er eine fundierte Leichtigkeit im Umgang mit dem symphonischen Orchester – eine Fähigkeit, die ihm selbst seine weniger freundlich gesinnten Kritiker nicht aberkennen.

Die Bedeutung des Leibeigenenorchesters ging jedoch noch weiter, denn es pflegte ein beachtliches Repertoire, das zum Grundstock der Kompositionstechnik Glinkas werden sollte. Zu diesem Repertoire gehörten nicht nur die neuesten Ouvertüren Cherubinis und Méhuls, sondern auch die großen Mozart-Opern (absehen von der Entführung aus dem Serail und Così fan tutte) sowie zu Beethovens Fidelio. Die Aufgabe des noch minderjährigen Glinka bestand darin, den Leibeigenenmusikern die eigenen Instrumentalstimme innerhalb von wenigen Wochen notengetreu beizubringen. Auf diese Weise erhielt Glinka gleichsam aus nächster Nähe einen umfassenden Überblick nicht nur über den Orchestersatz des jeweiligen Werks, sondern auch über dessen formalen Anlage und kompositorische Faktur. Es war eine unschätzbare Lernerfahrung, die sich mit der Erfahrung Wagners, als er etwa im gleichen Alter die Partitur zur Neunten Symphonie Beethovens niederschrieb, durchaus vergleichen lässt.

Diese Fähigkeiten haben dem jungen Glinka guten Dienst geleistet, als er 1824 eine anspruchslose Stelle im mittleren Beamtentum St. Petersburgs annahm und sich ins Leben eines Musikdilettanten stürzte. Dort kam er bald in den Einflusskreis des Musikpädagogen und ehemaligen Field-Schülers Charles Mayer (1799-1862), der einen beachtlichen Schülerstamm in der russischen Hauptstadt aufgebaut hatte und der rasch erkannte, dass Glinka nicht so sehr Musikunterricht im herkömmlichen Sinne als vielmehr eine besonnene Beratung brauchte. Er nahm den talentierten jungen Mann in seinen Freundeskreis auf und ermutigte ihn, Werke zu komponieren und ihm zur Begutachtung zu zeigen.

Um diese Zeit entstanden die beiden hier vorgelegten Ouvertüren, die uns als gewichtigste vollendete Werke aus den musikalischen Lehrjahren Glinkas erhalten geblieben sind. Obwohl es sich nicht hierbei um überlegene Kunstwerke handelt (dem Glinka-Biographen David Brown fällt keine passenderen Beschreibungen als "gefällig und sauber" ein), sind die Ouvertüren als Einblick in die frühen kompositionstechnischen Hauptbeschäftigungen Glinkas unerlässlich. Hierzu gehört sicherlich ein Interesse an kniffligen kontrapunktischen Kunstgriffen, für die Glinka offensichtlich eine Vorliebe hegte und die er ostentativ in die Durchführungsteile dieser Frühwerke einbaute. Letztendlich bleiben die beiden Ouvertüren jedoch studentische Leistungen, deren Bedeutung darin sich erschöpft, dass sie einen Einblick in die musikalische Entwicklung eines späteren Genies gewähren.

Die Ouvertüren g-Moll und D-Dur sind zu Lebzeiten Glinkas nie in Druck erschienen und blieben in seinem Nachlass im Manuskript erhalten. Erst 1955, fast ein Jahrhundert nach dem Tod des Komponisten, wurden sie im Rahmen der Glinka-Gesamtausgabe (Bd. 1, Moskau) herausgebeben. Später wurden sie vom Russischen Staatlichen Musikverlag im zweiten Band der Ausgewählten Orchesterwerken Glinkas nachgedruckt (Moskau 1984), wo sie neben solchen Orchester-Kuriositäten wie der Walzer-Fantasie Kamarinskaja (1839) und der Jota aragonesa (1845) stehen. Unsere Studienpartitur stellt eine getreue Wiedergabe der Ausgabe von 1984 dar.

Bradford Robinson, 2010

Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Mikhail Glinka
(b. Novospasskoye, 1 June 1804 – d. Berlin, 15 February 1857)

Overture in G minor (p.7)
Overture in D major (p.35)

Preface
For a man generally considered the fountainhead of the Russian school of composition, Mikhail Glinka had a surprisingly patchy musical education. He was proud of having taken three piano lessons from the celebrated Irish virtuoso John Field and for having performed a Hummel concerto privately to the satisfaction of its composer. But apart from piano lessons from his governess, his most important musical experiences evidently came from two quite contradictory quarters: his work with his uncle's serf orchestra, near the family's country estate in Novospasskoye, and his 1823 tour of the Caucasus, ostensibly to cure his many imaginary illnesses, but more importantly to experience the indigenous music and dances of the local Circassian population. From the latter he obtained a lifelong fondness and affinity for folk subjects and characters, as reflected in his two great operas A Life for the Tsar (1836) and Ruslan and Lyudmila (1842). From the former he gained a natural expertise in handling the orchestra, an ability which even his detractors have had to concede.

But the importance of his uncle's serf orchestra went beyond that, for they played a rather impressive repertoire that came to serve as the bedrock of Glinka's compositional technique. Overtures by Cherubini and Méhul loomed large in their repertoire, but so did the overtures to Mozart's great operas (less Abduction and Così fan tutte) and Beethoven's Fidelio. Glinka's task, while still a teenager, was to train the peasants to play their parts note-perfectly over a period of weeks. In this way he gained not only a full overview of the music's orchestration, but also a detailed grasp of its form and workmanship. It was an invaluable experience and one comparable, in its way, to Wagner's writing out of the score of Beethoven's Ninth at roughly the same age.

These skills served Glinka well when the young man took an undemanding job in the civil service in St. Petersburg in 1824 and began the life of a musical dilettante. There he came under the influence of Charles Mayer (1799-1862), a former pupil of Field who had attracted a large following of pupils in the Russian capital. Mayer, quickly realizing that Glinka did not require instruction so much as gentle guidance, soon befriended the talented young man and encouraged him to compose works and submit them to his critique. It was at this time that Glinka wrote the two overtures published in the present volume, the most substantial surviving works from these years of musical apprenticeship. Though not distinguished as works of art (Glinka's biographer David Brown can find no better words for them than "facile and neat"), they are invaluable in revealing his early musical preoccupations. One of these was certainly an interest in problems of decorative counterpoint, for which he had an obvious penchant and which crop up conspicuously in the development sections of these early works. The two overtures remain, however, student efforts, and are useful only for shedding light on the musical development of a later composer of genius.

The Overtures in G minor and D major were never published during Glinka's lifetime and remained in manuscript among his posthumous papers. It was not until 1955, almost a century after the composer's death, that they were edited and published in Moscow in volume 1 of the Glinka Complete Edition. Later they were reissued by the Russian State Music Publishers in Glinka's Selected Orchestral Works (vol. 2, Moscow, 1984), where they stand alongside such other curiosities as the Kamarinskaya: Valse-Fantaisie (1839) and the Jota aragonesa (1845). Our volume is a faithful reprint of that 1984 edition.

Bradford Robinson, 2010

Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, Munich.