Michail Glinka
(geb. Novospasskoe, 1. Juni 1804 – gest. Berlin, 15. Februar 1857)

Bühnenmusik zum Schaulspielstück Fürst Cholmskij (1840)
von Nestor Kukolnik (1809-1868)

Vorwort
Ende des Sommers 1849 erhielt Michail Glinka, der sich nach einigen unliebsamen Unterbrechungen die Arbeit an seiner zweiten Erfolgsoper Ruslan und Ljudmila gerade wieder aufgenommen hatte, eine dringende Bitte vom Dramatiker Nestor Kukolnik: Ob er bereit sei, binnen kürzester Zeit die Bühnenmusik zu einem neuen historischen Drama über das Sujet Fürst Cholmskij zu komponieren? Nicht nur war Kukolnik ein Freund des Komponisten, sondern er wurde auch seit dem triumphalen Erfolg seines Dramas Ruka Wsevischnego Otetschestwo Spasla ("Die Hand Gottes rettet das Mutterland", 1834), das vom Kaiser selber bei der Premiere heftig applaudiert wurde, zu den Senkrechtstartern der russischen literarischen Szene gekürt. Darüber hinaus hatte Kukolnik 1837 den Text zur ergänzenden Klosterszene im IV. Akt der Oper Iwan Sussanin beigesteuert. Wie hätte Glinka seine Bitte da ausschlagen können?

Das neue Drama Knjaz' Cholmskij ("Fürst Cholmskij") fußt zwar leicht auf dem Boden der historischen Tatsachen, lässt sich jedoch wohl am besten als eine romantisch-historisierende Fantasie im mittelalterlich–russischen Milieu beschreiben, die von ausladenden Emotionen, großen Ausbrüchen von Bosheit und Gefühlsseligkeit sowie einer heftigen Prise Antisemitismus nur so strotzt. Bei der Handlung, die im Pskow des Jahres 1474 angesiedelt ist, dreht es sich um eine jüdische Verschwörung (die sogenannte "Heresie der Judaisten"), die zum ziel hat, den russischen Streitkräften in ihrem Kampf gegen den deutschen Schwertbrüderorden Livlands (geführt vom merkwürdig genannten Feldherrn Schlummermaus) entgegenzuwirken. Diese knappe Beschreibung reicht jedoch bei weitem nicht, um den Wirrwarr von Verwechslungen, Missverständnissen, Meineidsfällen und plötzlichen Peripateien zu schildern in einer Handlung, in der jeder etwas Geheimnisvolles im Schilde führt, von dem die anderen nichts wissen. Kurzum: Als Drama war Fürst Cholmskij den reißerischen Erfolgsstücken ebenbürtig, die Verdi in den 1840er Jahren in den Bann zogen, und fand im Geiste Glinkas entsprechend großen Anklang.

Zwischen dem 19. September und dem 15. Oktober brachte der febrig arbeitende Glinka innerhalb von nicht einmal vier Wochen drei Arien, 4 Zwischenaktmusiken sowie eine großangelegte Ouvertüre zustande. Es war – wie es sein Biograph David Brown darstellt – "die mit Abstand intensivste Zeit der schöpferischen Aktivität seines ganzen Lebens". Für Rachel, das unglückliche jüdische Mädchen, das sich aus verschmähter Liebe mitten im Stück ertränkt, wandte sich Glinka an eine Vokalstudie, die er bereits 1833 für die erste große Liebe des eigenen Lebens – eine heranwachsende Berliner Jüdin namens Marja – komponiert hatte. Abgesehen von diesem "Hebräischen Lied" sowie einer weiteren Gesangseinlage war alles in der Partitur neukomponiert. Die gewichtige Ouvertüre wurde als dramatische Vorwegnahme der Haupthandlung konzipiert, wobei das Material vom "Traum des Rachels" als Hauptsatz und das des "Lieds der Ilinischna" als Nebensatz erscheinen und im weiteren Verlauf von der vierten Zwischenaktmusik reichlich Gebrauch gemacht wird. Kurz vor der Koda werden das erste und das zweite Thema nicht nur miteinander, sondern auch mit dem Maestoso-Motiv vom Anfang der Ouvertüre kontrapunktisch verschränkt – ein raffinierter kompositorischer Kunstgriff, den Glinka in den 1820er Jahren in den beiden Ouvertüren seiner Studienzeit bereits ausprobiert hatte.

Auch wenn die Bühnenmusik Glinkas in Rekordzeit fertig war, ließ die Bühnenpremiere noch lange auf sich warten, und es musste noch ein weiteres Jahr verstreichen, bis die Partitur im Theater ertönen durfte. Davor hatte Glinka jedoch eine konzertante Uraufführung der Instrumentalsätze organisiert, die dann auch am 6. März 1841 in St. Petersburg stattfand. Schließlich fand am 30. September des gleichen Jahres im Petersburger Alexander-Theater auch die Bühnenpremiere statt, die sich jedoch als regelrechtes Fiasko erwies. Nach lediglich drei Vorstellungen verschwand das Schauspiel aus dem Bühnenrepertoire – und mit ihm auch die Bühnenmusik Glinkas. Auch wenn der Komponist die Vokalnummer als Kunstliedern mit Klavierbegleitung weiter vermarkten konnte, erklang die Bühnenmusik zu Fürst Cholmskij zu Lebzeiten Glinkas nie wieder.

Sechs Jahre nach dem Tod des Komponisten erschien die Bühnenmusik zu Fürst Cholmskij 1862 in St. Petersburg in Druck. Die Wirkung war enorm: Der maßgebende Kritiker Wladimir Stassow erhob sofort die vierte Zwischenaktmusik zu "einem der großartigsten Schöpfungen aus Glinkas Feder". Noch weiter ging Tschaikowsky: "Hier zeigt sich Glinka als einer der größten Symphoniker seiner Zeit. Viele Details in der Fürst-Cholmskij-Musik erinnern an die Pinselführung Beethovens". Bis zu diesem Zeitpunkt war das Oeuvre Glinaks im allgemeinen und die Fürst-Cholmskij-Musik insbesonders in russischen Komponistenkreisen zum Prüfstein des Kunstanspruchs erhoben. Als der junge Nikolai Rimski-Korsakow noch vor seiner Zeit mit dem "Mächtigen Häuflein" seine Musikkenntnisse erweitern wollte, machte er – so seine Autobiographie – durch seinen Klavierlehrer eine wichtige Entdeckung: "Glinka war ein Genie! Hatte ich das vordem auch empfunden – jetzt bestätigte es mir ein wirklicher Musiker. Er machte mich bekannt mit der Musik zu Fürst Cholmskij [...]". Später zollte Rimski-Korsakow – mit Hilfe von Alexander Glasunow – seinem frühen musikalischen Vorbild einen glänzendes Tribut, indem der die Musik zu Fürst Cholmskij umorchestrierte und 1902 als umgearbeitete Neuausgabe beim Leipziger Verlag Belaieff in Druck erscheinen ließ (die Ouvertüre wurde sogar als Taschenpartitur separat verlegt). In der Fassung von Rimski-Korsakow/Glasunow wurden die Instrumentalsätze aus der Cholmskij-Musik recht bekannt, was eine beachtliche Plattenaufnahme durch den großen Dirigenten Ewgeny Swetlanow mit der Symphonieorchester der UdSSR auch belegt. Im Jahre 1977 wurde diese Fassung auch von Belaieff neuaufgelegt.

Die Urfassung der Musik zu Fürst Cholmskij erschien im 7. Band der vom Russischen Staatsverlag herausgegebenen Glinka-Gesamtausgabe (Moskau 1958). Später wurden die Ouvertüre sowie die vier Zwischenaktmusiken dieser Ausgabe entnommen und im 2. Band der Ausgewählten Orchesterwerke vom gleichen Verlag neuaufgelegt (Moskau 1984). Bei unserer Studienpartitur handelt es sich um eine getreue Wiedergabe der Ausgabe von 1984.

Bradford Robinson, 2010

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an Belaieff, Mainz. Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

1 June 1804 – d. Berlin, 15 February 1857)

Incidental Music to Prince Kholmsky
(1840)
by Nestor Kukolnik (1809-1868)

 

Preface
In the late summer of 1849 Glinka, having just resumed his work on Ruslan and Lyudmila after several long interruptions, received an urgent request from the playwright Nestor Kukolnik: Would he be willing to supply, at very short notice, incidental music for a new historical drama on the subject of Prince Kholmsky? Kukolnik was a friend of the composer's; more than that, ever since the triumph of his 1834 play Ruka Vsevishnego Otechestvo Spasla ("God's Hand Saved the Motherland"), which was applauded by the Emperor himself at its première, he was considered one of the young lions of the Russian literary scene; and he had contributed the text for the additional monastery scene in Act IV of A Life for the Tsar in 1837. How could Glinka say no?

The play itself, Knyaz' Kholmskiy ("Prince Kholmsky"), though loosely based on historical fact, might best be described as a romantic fantasy in a Russian medieval setting, abounding in high emotion, grand outbursts of villainy and sentimentality, and a large dose of anti-Semitism. Set in Pskov in the year 1474, the story turns on a Jewish plot (the so-called "Heresy of the Judaists") to thwart the Russian forces in their wars against the Germanic Knights of the Livonian Order (led by the curiously named Schlummermaus). This summary, however, does no justice to the hodge-podge of mistaken identities, misunderstood motives, false accusations, and sudden peripetaias in a plot in which everyone seems to be following a secret agenda unknown to everyone else. It was a play worthy of the pot-boilers that inflamed Verdi's imagination in the 1840s, and it struck a particularly resonant chord with Glinka.

Between 19 September and 15 October Glinka, working at a feverish pace, turned out three arias, four entr'actes and an overture in less than four weeks. It was, as his biographer David Brown put it, "the most intense period of creative activity in the whole of his life." For Rachel, the unfortunate Jewish maiden who drowns herself for unrequited love, Glinka could draw on a vocal study that he had written in 1833 for the first great love of his life, a Berlin teenage Jewess named Marya. But apart from this "Hebrew Song" and one other song, everything in the score was new. The substantial overture was fashioned as a dramatic foreshadowing of the events in the play, beginning with "Rachel's Dream" as its first theme, proceeding to "Ilinisha's Song" as its second, and making abundant use of the entr'acte music for Act IV. Just before the coda, the first and second themes are placed in counterpoint with each other and with the overture's opening maestoso motif - a clever compositional slight-of-hand already foreshadowed in Glinka's early student overtures of the 1820s.

If Glinka's incidental music was ready in record time, the performance itself was not, and the music had to wait for another year before it could be heard in the theater. Before then Glinka arranged a concert première of the instrumental numbers, which duly took place in St. Petersburg on 6 March 1841. The stage première was finally held on 30 September, in St. Petersburg's Alexander Theatre. It was an unmitigated disaster, and the play vanished after three performances, taking Glinka's music with it. Although he reworked the vocal numbers for marketing purposes, the music to Prince Kholsky was never heard again during the composer's lifetime.

Six years after Glinka's death the incidental music to Prince Kholsky was published in St. Petersburg (1862). The effect was electrifying: the great critic Vladimir Stasov immediately proclaimed the Act IV entr'acte music to be "one of Glinka's greatest compositions." Tchaikovsky went even further: "Glinka here shows himself to be one of the greatest symphonic composers of his day. Many touches in Prince Kholmsky recall the brush of Beethoven." By this time Glinka's music, and Prince Kholmsky in particular, were regarded in Russian circles as a touchstone of artistic stature. Rimsky-Korsakov, trying to improve his knowledge of music in his pre-Kuchka days, exclaimed later in his autobiography: "Glinka was a supreme genuis! Until then I had felt it intuitively; now I heard it from a real musician. He acquainted me with Prince Kholmsky [...]." Later Rimsky-Korsakov, with the help of Alexander Glazunov, paid his early musical hero a supreme tribute by rescoring the Prince Kholmsky music and having it published in a "revised new edition" by Belaieff of Leipzig in 1902 (the overture was even issued separately in miniature score). In the Rimsky-Korsakov/Glazunov version, the instrumental parts of the Kholmsky music became quite famous and were memorably recorded by the great Evgeny Svetlanov and the USSR Symphony Orchestra. Belaieff reissued their earlier edition of the Kholmsky material in 1977.

Glinka's original version of the Prince Kholmsky music was published in volume 7 of the Complete Edition (Moscow: Russian State Music Publishers, 1958). Later the overture and interludes were extracted from this edition and reissued in volume 2 of Selected Orchestral Music (Moscow: Russian State Music Publishers, 1984). Our study score is a faithful reproduction of that 1984 print.

Bradford Robinson, 2010

For parts please contact Belaieff, Mainz. Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.