Louis Spohr
(geb. Braunschweig, 5. April 1784 - gest. Kassel, 22. Oktober 1859)

Doppelquartett No. 2, Op. 77
(1827)

Louis (Ludewig) Spohr wurde 1784 in Braunschweig in eine Familie begabter Amateurmusiker hineingeboren. Musikalische Abende gehörten im Haushalt der Spohrs zum guten Ton - oft konnte man zu diesen Anlässen den jungen Spohr mit seiner Mutter, die auch die Flötenaufführungen ihres Ehemannes begleitete, im Duett singen hören. Mit fünf Jahren begann der Junge, volkstümliche Weisen auf der Geige zu spielen, die ihm sein Vater gekauft hatte. Sein musikalisches Talent wurde schnell erkannt, und kurzerhand engagierte man den ortsansässigen Geiger J.A. Riemenschneider als seinen ersten Violinlehrer. Der französische Geiger Dufour übernahm ab 1791 Spohrs weitere Ausbildung am Instrument, und es war seinem Drängen zu verdanken, dass er das Collegium Carolinum in der Nähe seines Heimatorts Seesen besuchte, um seine Musikausbildung fortzusetzen. Hier studierte er Violine bei Gottfried Kunisch und Charles Louis Mancourt. Ebenfalls erhielt hier seine einzige musiktheoretische Anleitung bei Carl August Hartung. Sie dauerte kaum länger als ein Jahr.

1799 begab sich Spohr auf eine ehrgeizige Konzertreise nach Hamburg. Aber dieses Unternehmen entwickelte sich zu einem finanziellen Desaster, und er kehrte nach Seesen zurück, um eine Anstellung als Kammermusicus am Hof des Herzogs Carl Wilhelm Ferdinand von Brunswick anzutreten. Dies waren prägende Jahr, denn die Anstellung erlaubte es ihm, Kammermusik von Mozart, Haydn und Beethoven wie auch Opern von Mehul und Cherubini aufzuführen; die Werke jener Komponisten sollten die dauerhafte Basis für Spohrs eigenen Kompositionsstil bilden, den er über die nächsten Jahre entwickelte.
Spohrs Engagement als Kammermusicus war auch mit der Zusage verbunden, einen neuen Geigenlehrer zu erhalten. 1802 wurde das Versprechen mit Franz Eck als sein neuer Instrumentallehrer eingelöst. Die Musiker begaben sich auf eine einjährige Konzertreise nach St. Petersburg, die eine Schlüsselrolle in Spohrs Entwicklung als Komponist und aufführender Künstler werden sollte. Die zahlreichen musikalischen Soiréen, an denen er teilnahm, erlaubten ihm nicht nur, seine eigenen Werke den zahlreich vertretenen Komponisten vorzuführen, sondern boten auch Gelegenheit, Aufführungen neuer Werke zu erleben, deren Schöpfer in Seesen noch unbekannt waren. Über eine Begegnung mit Dussek und die Aufführungen von dessen neuem Quintett schrieb Spohr, dass es trotz seiner vielen Modulationen etwas stumpfsinnig sei. Und es sei das Allerschlimmste, dass es weder Form noch Rhythmus habe und das Ende auch der Anfang hätte sein können. Weiterhin wurde Spohrs musikalische Ästhetik von einem improvisierten Konzert russischer Soldaten geprägt, die Volkslieder zum Besten gaben, und deren harsche Vortragsweise Spohr zuwider war. Diese und ähnliche Anlässe, die der Komponist in seinem Reisejournal beschreibt, beeinflussten seine Ästhetik bis in seine späten Werke hinein.

1805 wurde Spohr Konzertmeister in Gotha. Hier erwarb er sich einen guten Ruf als Dirigent und setzte seine Kompositionsarbeiten fort. Während dieser Zeit heiratete er die Harfenistin Dorette Scheidler, die ihn von nun an auch gelegentlich auf seinen Konzertreisen begleitete. Zwischen 1807 und 1822 war Spohr als Geiger, Dirigent und Komponist unterwegs, so unter anderem in Wien, wo er dauerhafte Freundschaft mit Beethoven schloss, dann ebenso in St. Petersburg, Frankfurt am Main, Darmstadt, Strasbourg, Bern, Thierachern, Milan, London und Paris. Diese Reisen konfrontierten ihn mit einen grossen Reichtum an musikalischen Erfahrungen, die seine musikalischen Auffassungen formten und seinen Kompositionsstil beeinflussten.

Obwohl er schon früh ein Verfechter von Wagners Opern war, blieb sein eigener Kompositionsstil doch fest in der klassischen Tradition verwurzelt. Während er ein leidenschaftlicher Bewunderer von Beethovens frühen Symphonien war, fand er jedoch an dessen späten Werken viel auszusetzen. Über dessen Fünfte Symphonie in c - Moll, op. 67 schrieb Spohr: " ... die zwar einzelne Schönheiten hat, aber kein schönes klassisches Ganzes bildet. Namentlich fehlt sogleich dem Thema des ersten Satzes die Würde, die der Anfang einer Sinfonie meinem Gefühl nach doch notwendig haben muß... Das Adagio in As ist teilweise sehr schön, doch wiederholen sich dieselben Gänge und Modulationen, obgleich immer reicher figuriert, gar zu oft und werden dadurch zuletzt ermüdend. .. Der letzte Satz mit seinem nichtssagenden Lärm befriedigt am wenigsten; die Wiederkehr des Scherzo darin ist jedoch eine so glückliche Idee, daß man den Komponisten darum beneiden muß. Sie ist von hinreißender Wirkung! Wie schade, daß der wiederkehrende Lärm diesen Eindruck so bald verwischt!" So führte jede weitere Aufführung eines "mittelmässigen " Stückes, die Spohr während seiner Reisen erleben sollte, zu einer Verfestigung seiner Überzeugung, dass eine gut konstruierte harmonische Grundlage unumgänglich sei, um die Melodie zu voller Geltung zu bringen. Ähnlich wurde auch seine Aufmerksamkeit auf die Wirkung verschiedener Intonationen und Ausstattung der Aufführung auf die Effektivität der musikalischen Struktur deutlich in seiner Wahl der Instrumentation, Intonation und sogar der Gestaltung desTempos eines Werks.

1827 in Kassel komponiert, verkörpert Spohrs Doppelquartett Nr. 2, Op. 77 mustergültig die stilistische Ästhetik, die Spohr während seiner frühen Reisen entwickelte. Er glaubte, er sei einer der ersten Komponisten, die für Doppelquartett komponierten, und schrieb an Pleyel, die Idee sei, die Quartette "nach Art von Doppelchören häufig abwechseln und konzertieren zu lassen und das achtstimmige nur für die Hauptstellen der Komposition aufzusparen." Der erste Satz, in dem diatonische Harmonik eine stark chromatisch geprägte Melodie unterstützt, erzeugt eher die Wirkung einer ripieno - Harmonisierung. Das erste Quartett spielt die technisch anspruchsvolleren Passagen, während das zweite einfacheres, begleitendes Material verarbeitet, ähnlich den Duetten für Lehrer und Schüler, die Spohr für seine Geigenschüler komponierte. Während das Thema von Stimme zu Stimme wandert, macht der erste Satz verschiedene Modulationen durch, die durch eine Reihe unterschiedlicher Methoden erreicht werden. Anders als im ersten Satz, in dem der Hauptteil des melodischen Materials im ersten Quartett verbleibt, reicht der hochgradig rhythmisierte zweite Satz in Menuett - Form seine melodischen Einfälle von Quartett zu Quartett. Die erste Spielergruppe wird seine Vorherrschaft nicht vor dem Trio wiederherstellen. Im Trio wird Spohrs Bevorzugung der motivischen Variation vor der motivischen Entwicklung ähnlich Beethovens später Kammermusik deutlich. Das erste Thema taucht im gesamten Trio immer wieder auf, teilweise oder völlig gekürzt. In diesem wie auch in den anderen Sätzen bleibt das Thema im Wesentlichen unverändert; die Variationen, denen Spohr sein thematisches Material unterwirft, tragen zu keiner substantiellen Entwicklung bei. Während seiner Zeit in Italien beklagte sich Spohr über die schnellen Tempi, in denen das traditionell langsame Adagio gespielt wurde, und in Paris war er entsetzt darüber, dass die technische Meisterschaft, nach der die führenden Geiger strebten, die Aufführung langsamer Stücke ausschloss. So kostet der dritte Satz in vollen Zügen die langsamen Tempi aus, die Spohr so schätzte, und erlaubt der reichen Harmonik, die einfache fallende Melodie zu verstärken. Die volkstümliche Melodie des abschliessenden Satzes, wie häufig in Spohrs Kammermusik sprühend vor punktierten Rhythmen, wird wie bereits gehört vom ersten Quartett harmonisiert und begleitet von gelegentlichen Einwürfen des zweiten Quartetts. Der vierte Satz mit seiner lebhaften Melodielinie, klassischen Form und vergleichsweise einfachen Harmonik platziert Spohr Herangehensweise an kompositorische Fragen eindeutig in die Ästhetik des klassischen Biedermeier.

Lisa Hooper, 2010

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an die Fleisher Library, Philadelphia. Nachdruck eines Exemplars der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

pril 1784 - d. Kassel, 22. October 1859)

Double Quartett No. 2, Op. 77
(1827)

Louis (Ludewig) Spohr was born in Braunschweig, 1784, into a family of talented amateur musicians. Musical evenings were common events in the Spohr household, often with the young Spohr singing duets with his mother who also accompanied her husband's flute performances. At the age of five Spohr began playing popular folk tunes on the violin purchased for him by his father. His talent quickly became apparent and the local violinist J.A. Riemenschneider was briefly engaged as Spohr's first violin teacher. The French violinist Dufour took over Spohr's violin instruction in 1791 and it was at Dufour's insistence that Spohr began attending the Collegium Carolinum near Seesen in1797 to continue his musical studies. Here he studied violin with Gotfried Kunisch and Charles Louis Mancourt. He also received his only formal training in musical theory, lasting hardly more than a year, with Carl August Hartung.

In 1799 Spohr was embarking on an ambitious concert tour in Hamburg. The tour proved a financial disaster, however, and Spohr returned to Seesen to procure a position as kammermusicus at the court of Duke Carl Wilhelm Ferdinand of Brunswick. These were formative years for Spohr, as the engagement provided the opportunity to perform the chamber works of Mozart, Haydn, and Beethoven as well as the operas of Méhul and Cherubini; the works of these composers formed the lasting basis of Spohr's compositional style developed over the next several years.

Spohr's engagement as kammermusicus also came with the promise of obtaining a new violin teacher. The promise was fulfilled in 1802, when Franz Eck became Spohr's new violin teacher. The pair embarked on a year-long concert tour to St. Petersburg, which played a key role in Spohr's development as both a performer and composer. The numerous parlor musicales that Spohr participated in not only allowed him to perform his compositions for the many composers he met along the way, but Spohr also had the opportunity to hear performances of new works that by composers not yet known in Seesen. Of an encounter with Dussek and a performance of his new quintet, Spohr wrote "despite its many modulations, it became a bit dull. Worst of all, it had neither form nor rhythm, and the end could as well have been the beginning." Spohr's musical aesthetic was further influenced by an impromptu concert of Russian soldiers singing folk songs whose harsh style of singing Spohr could not abide. These and similar concerts described in Spohr's travel journals all influenced his compositional aesthetic and their influence remained evident even in his later works.

By 1805, Spohr was appointed concert master in Gotha. Here he developed a reputation as a conductor and continued his composing. During his time in Gotha he married the harpist Dorette Scheidler who frequently accompanied Spohr on his subsequent concert tours. From 1807 to 1822 Spohr toured as a performer, conductor, and composer, passing through Vienna, where he made a lasting friendship with Beethoven, St. Petersburg, Frankfurt am Main, Darmstadt, Strasbourg, Bern, Thierachern, Milan, London, and Paris. These travels exposed Spohr to a wide variety of musical experiences that continued to shape his musical aesthetic and influenced his compositional style.

Despite being an early champion of Wagner's operas, Spohr's compositional style remained rooted in the classical tradition. Indeed, while being a fervent admirer of Beethoven's earlier symphonies, Spohr found much to criticize in his later works. Of Symphony No. 5 in c minor, op. 67, Spohr wrote: "It has many individual beauties, but they do not add up to a classical whole. The very first theme, in particular lacks the dignity essential to the opening of a symphony... The adagio, in A flat, is very beautiful in part, but the same progressions and modulations are repeated too often, despite the ever richer figuration... The last movement, with it empty noise, is the least satisfactory, although the return of the scherzo is such a happy idea that one can only envy the composer who could have thought of such a thing. It is quite irresistible. What a pity that the effect is so soon dissipated by the resumption of the noise." Each successive performance of a 'mediocre' piece that Spohr attended during his travels served to further strengthen his conviction that a well-constructed harmonic grounding was necessary to give full voice to melody. Similarly, his attention to the impact of different voicings and performance settings on the effectiveness of texture becomes apparent in his choices of instrumentation, voicing, and even pacing of a work.

Composed in 1827 in Kassel, Spohr's Doppelquartett no. 2, Op. 77 fully embodies the stylistic aesthetic developed during his earlier travels. Spohr believed he was among the first to compose for double quartet, writing to Pleyel that the idea "is most like a piece for double chorus, for the two quartets who cooperate here work against one another in about the same proportion as the two choirs do." In the first movement in which diatonic harmony supports a highly chromatic melody, the effect is more of a ripieno setting with the first quartet playing the technically difficult passages while the second quartet plays simpler accompanying material, much like the duets for teacher and pupil that Spohr composed for his violin students. As the theme passes from voice to voice the first movement makes numerous modulations approached by a variety of methods. Unlike the first movement in which the majority of the melodic material remained in the first quartet, the highly rhythmicized second movement in minuet form instead passes the melodic line from one quartet to the other. The first quartet does not reassert its authority until the trio begins. In the trio Spohr's preference for motivic variation, rather than motivic development familiar to Beethoven's later chamber works, becomes apparent as the first theme reappears throughout the trio either in full or slightly truncated. In this movement, as in others, the theme remains fundamentally unaltered; the variations Spohr subjected the theme to fail to effect any substantial development. During his time in Italy Spohr lamented the fast tempi with which traditionally slow adagios were taken and in Paris he was horrified that the technical prowess sought by the leading violinists precluded the performance of slower pieces. The third movement, Larghetto, takes full advantage of slower tempi Spohr so greatly valued, allowing rich harmonies to amplify the simple falling melody. The folk-like theme of the final movement, resplendent with the dotted rhythms common Spohr's chamber works, is often heard harmonized by the first quartet and accompanied by the frequent interjections of the second quartet. The fourth movement with its vibrant virtuosic melodic line, classical form, and comparatively simple harmonic outline places Spohr's approach to composition clearly within the classical Biedermeier aesthetic.
Lisa Hooper, 2010

For performance material please ask Fleisher Library, Philadelphia. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.