Wilhelm Berger
(geb Boston, 9. August 1861 - gest. Jena, 15. Januar 1911

Klavierquintett f-Moll op. 95

Vorwort

Auch wenn schon eine erste Durchsicht der Partitur seines Klavierquintetts f-Moll op. 95 unmittelbar Neugierde auf mehr weckt, ist Wilhelm Berger (1861–1911) heute selbst Musikwissenschaftlern kein Begriff mehr. Bei fast identischen Lebensdaten zu Gustav Mahler taucht er in den Standardmusikgesichten, welche die Zeit des Fin de siècle in Deutschland behandeln, nicht einmal am Rande auf. Ein wahrhaft vergessener Komponist, der lediglich in Statistiken zur Kunstmusik jener Zeit bisweilen Erwähnung findet. Angesichts dessen, was einem an Musik in diesem Klavierquintett begegnet, kann man nur über den Reichtum der seinerzeitigen Musikproduktion staunen, die es offensichtlich leichten Herzens gestattet, im heutigen Konzertleben Musik dieser Qualität zur Gänze zu ignorieren. Man vergleiche nur die anziehende Melancholie der kurzen Streichquartettpartie ab Takt 15 nach Ziffer E des eröffnenden Allegro non troppo ed energico, den zarten Anfang des im viersätzigen Zyklus an zweiter Stelle stehenden lyrischen Poco adagio oder den strahlend-mediterranen Beginn des darauf folgenden Molto vivace, um sich eine Vorstellung davon zu machen, welch verschüttetes Juwel der Klavierquintettgattung man hier vor sich hat. Eine Klasse für sich in jeder Hinsicht, von der melodischen Qualität der Themen bis zur Vielfarbigkeit der stetig changierenden spät-romantischen, aber nie überladenen Harmonik, vom Abwechslungsreichtum des musikalischen Verlaufs bis hin zur Virtuosität des meist licht gehaltenen Satzes, welcher den Spielern ein beachtliches technisches Können und vor allem ein ausdifferenziertes Zusammenspiel abverlangt, um die ständigen Schwerpunktwechsel zwischen Melodie, Begleitung und Tutti adäquat darstellen zu können, von deren Reiz gerade das Molto vivace lebt. Im dauernden und dabei elegant austarierten Wechselspiel von agilen, von Skalen geprägten Partien und lyrischen, von Akkordflächen bestimmten Momenten ist jener dritte Satz das ästhetische Zentrum von Bergers Klavierquintett. Dieser Reigen ist insoweit ähnlich gelagert wie etwa so bewundernswerte schnell Mittelsätze wie das Scherzo – Furiant: Molto vivace aus Antonín Dvořáks Nr. 2 A-Dur op. 81 oder das Allegro vivo aus Gabriel Faurés Klavierquintett Nr. 2 c-Moll op. 115, welche eine ebenso glückliche Verbindung analog ausgestalteter Stimmungskontraste darstellen. Mit der Schwere und überbordenden Kontrapunktik vieler Klavierquintette deutschsprachiger Komponisten des Fin de siècle wie etwa jene von Bergers Meininger Nachfolger Max Reger c-Moll op. posth. (1898) und c-Moll op. 64 (1901) oder von Friedrich Gernsheims d-Moll op. 35 (1876) und h-Moll (1896) hat Bergers op. 95 wenig gemein.
Berger, 1861 in Boston geboren und erst im darauffolgenden Jahr mit seiner Familie nach Deutschland reimmigriert, entfaltete eine typische Musikerkarriere für die Zeit des deutschen Kaiserreichs. Er studierte zwischen 1878 und 1882 an der Berliner Hochschule für Musik, u.a. bei Woldemar Bargiel, Halbbruder Clara Schumanns und Verfasser u.a. eines herrlichen Streichoktetts c-Moll op. 15a, und Friedrich Kiel, letzterer ein zentraler Kompositionslehrer jener Zeit. Zwischen 1888 und 1903 lehrte Berger dann selber in Berlin am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium und machte sich einen Namen als Pianist und Dirigent. 1903 wurde er Mitglied der dortigen Akademie der Künste und folgte zugleich Hans von Bülow und Fritz Steinbach als Leiter der renommierten Meininger Hofkapelle nach, die u.a. für den späten Brahms eine so hervorragende Rolle gespielt hatte. Dort entstand auch sein Klavierquintett, das erstmals 1905 in Leipzig erschien. Berger war überhaupt kammermusikalisch sehr produktiv. Aus seiner Feder stammen des Weiteren drei Violinsonaten A-Dur op. 7, F-Dur op. 29 und g-Moll op. 70, eine Cellosonate d-Moll op. 28, ein Klarinettentrio g-Moll op. 94, zwei Klavierquartette A-Dur op. 21 und c-Moll op. 100 sowie ein Streichtrio g-Moll op. 69 und ein Streichquintett e-Moll op. 75.

Die Tradition des Quintetts für Klavier und Streicher begann in den 1770er Jahren. Sie ist bis heute lebendig, wie sich etwa an den ausgezeichneten jüngeren, dabei voneinander sehr verschiedenen Werken ablesen lässt. Zu denken wäre dabei etwa an die Klavierquintette von Lowell Liebermann op. 34 (1990), Krzysztof Meyer op. 76 (1991), Elliott Carter (1997), Nikolai Kapustin op. 89 (1998), Thomas Adès op. 20 (2000), Yitzhak Yedid "Since My Soul Loved" (2005) oder Antón García Abril "Alba De Los Caminos" (2007). Bergers Klavierquintett op. 95 steht dabei exemplarisch für die Vielzahl exzellenter Klavierquintette, die unter den mehr als 1000 wissenschaftlich erfassten Stücken dieser Gattung erhalten geblieben sind und welche den wenigen Arbeiten von berühmten Musikern in nichts nach-, aber doch übermäßig in deren Schatten stehen. In der Tat sind es wenige Klavierquintette, die den Kanon bilden und zugleich veranschaulichen, dass dies eine Gattung ist, welche von Komponisten zweiter und dritter Prominenz geprägt wird. Nur gut eine Hand voll Werke bestimmt die heutigen Konzert- und Tonträgerprogramme: Franz Schubert Forellenquintett A-Dur D 667 (mit Kontrabass), Robert Schumanns Es-Dur op. 44, Johannes Brahms' f-Moll op. 34, Antonín Dvořáks Nr. 2 A-Dur op. 81 und Dimitri Schostakovitschs g-Moll op. 57. Mit schon spürbarem Abstand folgen César Francks f-Moll, Gabriel Faurés Nr. 2 c-Moll op. 115, Edward Elgars a-Moll op. 84 und Alfred Schnittkes Opus Magnum von 1976. Jenseits dieser Werke kann man oft schon froh sein, wenn eine Notenausgabe und eine Einspielung greifbar sind, von Aufführungen und weitergehenden Informationen ganz zu schweigen. Bei genauerer Auseinandersetzung mit der Gattung erweist sich dieser Befund jedoch als kaum mehr denn eine Folge einer Musikgeschichtsschreibung und Klassikvermarktung, welche an Markennamen orientiert und deren Fokus auf Heroen und Meisterwerke gerichtet ist. Bergers Klavierquintett op. 95 ist insoweit ein typischer Vertreter der Gattungsgeschichte: Kleiner Name, große Qualität.
Zugleich ist der solitäre Status des Klavierquintetts in Bergers Oeuvre typisch. Kaum ein Komponist hat mehr als ein einziges Werk dieser Art geschrieben. Das gilt selbst für jene, die – wie auch Berger – kammermusikalisch ausgesprochen aktiv waren und an Sonaten, Trios oder Streichquartetten mehrere Exemplare hinterlassen haben. Ebenso charakteristisch ist die Stellung des Klavierquintetts im Gesamtschaffen, wie sie sich bei Berger zeigt. Es ist die Regel, dass das Klavierquintett an herausgehobener Position des künstlerischen Werdegangs erscheint, als Schlüsselwerk der frühen Jahre (vgl. z.B. Giuseppe Martucci, Christian Sinding, Jean Sibelius, Béla Bártok, Ernst von Dohnányi), wie bei Berger als monumentales Hauptwerk analog zu Sergej Tanejev, Wilhelm Berger, Florent Schmitt, Arnold Bax oder Wilhelm Furtwängler, wie bei Alfred Schnittke als autobiographisch zentrales Opus oder wie bei Nikolai Medtner mit seinem Klavierquintett C-Dur op. posth. als Summe des kompositorischen Schaffens. In dieser reichen Gattungstradition gehört Bergers kraftvoll-emphatisches, das lyrische wie das spielerische Element aber nicht scheuende Klavierquintett f-Moll op. 95 zu den Vertretern von großer melodiöser Eingängigkeit und orchestralem Glanz, ohne dass allerdings das durchaus vorhandene konzertante Moment den kammermusikalischen Charakter verdrängen würde.
1994 hat das Label MDG mit Jost Michaels (Klavier) und dem Verdi-Quartett eine ausgezeichnete, nach wie vor erhältliche Einspielung vorgelegt, wodurch auch ein exemplarischer hörender Erstzugang zu Bergers auf heutigen Konzertbühnen nicht existenten Klavierquintett op. 95 möglich ist.

Frédéric Döhl, 2010

 

Weiterführende Literatur

(1) Gustav Ernest, Wilhelm Berger. Ein deutscher Meister, Berlin 1931.
(2) Willi Kahl, Wilhelm Berger, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. von Friedrich Blume, Bd. I, Kassel 1949, Sp. 1693–1695.
(3) Irmlind Capelle, Beiheft zu Wilhelm Berger: Quintett op. 95 für Klavier, 2 Violinen, Viola und Violoncello (MDG), Detmold 1994.
(4) Herta Müller, Wilhelm Berger. Verzeichnis des Notennachlasses in der Sammlung Musikgeschichte der Meiniger Museen/Max-Reger-Archiv, 2003, http://www.dematon.de/mm/pdf/Wilhelm_Berger_Notennachlass.pdf (Abruf am 9. September 2010).

Wegen Aufführungsmaterial wenden Sie sich bitte an Musikproduktion Höflich (www.musikmph.de), München. Nachdruck eines Exemplars aus der Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.

Wilhelm Berger
(b. Boston, 9 August 1861 – d. Jena, 15 January 1911)

Piano Quintet in F minor, op. 95

Preface
Though a quick perusal of the score to his F-minor Piano Quintet (op. 95) immediately whets the appetite for more, Wilhelm Berger (1861–1911) is completely unknown today, even among musicologists. Almost an exact contemporary of Gustav Mahler, he does not even appear on the periphery of the standard music histories of fin de siècle Germany. Berger is a truly forgotten figure who is at best occasionally mentioned in the statistics of the period's art music. Given the music we find in his Piano Quintet, we can only stand amazed at the wealth of music written at the time, a wealth so great that it allows us to nonchalantly ignore music of this caliber in our concert life. We need only compare the burgeoning melancholy of the brief string quartet section of the opening Allegro non troppo ed energico (15 mm. after E), the tender beginning of the slow, lyrical second movement (Poco adagio), or the radiantly Mediterranean opening of the following Molto vivace to obtain an inkling of the sort of buried gem of the piano quintet repertoire we are dealing with. The piece is in a class by itself, from the melodic quality of its themes to the variegated hues of its ever-changing but never overloaded late-romantic harmonies, from the varied course of its musical design to the virtuosity required by its generally limpid texture, which demands considerable technique and above all sensitive ensemble playing from the musicians to adequately present its constant shifts of emphasis between melody, accompaniment, and tutti. It is these shifts that constitute the charm of this music, especially in the third movement (Molto vivace), which forms the aesthetic heart of Berger's Piano Quintet with its constant yet elegantly poised interplay of sections dominated by agile scalar figures and lyrical moments governed by chordal harmonies. Viewed in this light, this round dance is constructed in much the same way as such admirable fast middle movements as the Scherzo – Furiant: Molto vivace from Antonín Dvořák's Second Piano Quintet in A major (op. 81) or the Allegro vivo from Gabriel Fauré's Second Piano Quintet in C minor (op. 115), both of which reveal an equally felicitous combination of richly developed contrasting moods. Berger's op. 95 has little in common with the gravitas and ponderous counterpoint of many piano quintets by his fin de siècle German counterparts, such as the two C-minor quintets by his successor at Meiningen, Max Reger (op. post., 1898, and op. 64, 1901), or Friedrich Gernsheim's quintets in D minor, (op. 35, 1876) and B minor (1896).

Born in Boston in 1861, Berger returned with his family the following year to Germany, where he pursued a musical career typical of the Wilhelmine Era. From 1878 to 1882 he studied at the Berlin Musikhochschule, where one of his teachers was Woldemar Bargiel, the half-brother of Clara Schumann and himself the author of a magnificent String Octet in C minor (op. 15a), and Friedrich Kiel, a leading composition teacher of his day. Thereafter he himself taught at the Klindworth-Scharwenka Conservatory in Berlin (1888-1903) and gained a reputation as a pianist and conductor. In 1903 he was inducted into the Berlin Academy of the Arts and followed Hans von Bülow and Fritz Steinbach as head of the renowned Meiningen Court Orchestra, which did such yeoman's service inter alia for the late music of Brahms. It was there that he composed his Piano Quintet, which was first published in Leipzig in 1905. Indeed, Berger was altogether a highly productive writer of chamber music. Other works from his pen include three violin sonatas (A major, op. 7; F major, op. 29; G minor, op. 70), a D-minor Cello Sonata (op. 28), a G-minor Clarinet Trio (op. 94), two piano quartets (A major, op. 21; C minor, op. 100), a G-minor String Trio (op. 69), and an E-minor String Quintet (op. 75).

The history of the quintet for piano and string instruments began in the 1770s and is still alive today, as can be seen in several superb but highly contrasting works of recent vintage by Lowell Liebermann (op. 34, 1990), Krzysztof Meyer (op. 76, 1991), Elliott Carter (1997), Nikolai Kapustin (op. 89, 1998), Thomas Adès (op. 20, 2000), Yitzhak Yedid (Since My Soul Loved, 2005), and Antón García Abril (Alba De Los Caminos, 2007). Berger's op. 95 can stand as an example of the many excellent piano quintets surviving among the over one-thousand known works in this genre, which, though in no way inferior to the small number of works by famous musicians, continue to stand in their shadow. Indeed, the canon is made up of very few works, revealing that the genre is marked by composers of the second and third ranks. A mere handful of works dominate today's concert programs and recordings: Franz Schubert's Trout Quintet with double bass (D 667), Robert Schumann's E-flat-major Quintet (op. 44), Brahms's F-minor Quintet (op. 34), Dvořák's Second Quintet in A major (op. 81), and Dmitri Shostakovich's G-minor Quintet (op. 57). These are followed, after a sizeable gap, by César Franck's F-minor Quintet, Gabriel Fauré's Second Quintet in C minor (op. 115), Edward Elgar's A-minor Quintet (op. 84), and Alfred Schnittke's magnum opus, the Quintet for Piano and Strings (1976). Apart from these works, we can consider ourselves lucky to find an available edition or recording, much less a live performance or further information. A closer study of the genre reveals that these findings are little more than an upshot of music historiography and classical music marketing strategy oriented on brand names and focusing on heroes and masterpieces. Viewed in this light, Berger's op. 95 is typical of the history of the genre: small name, high quality.
No less typical is the solitary status of the Piano Quintet in Berger's own oeuvre. Hardly any composer wrote more than one work of this kind, even those who, like Berger, were voluminous writers of chamber music and left behind multiple sonatas, trios, or string quartets. Equally typical is the position of the Piano Quintet in Berger's overall output. As a rule, piano quintets stand at important junctures of the artists' careers, whether as a key early work (e.g. Giuseppe Martucci, Christian Sinding, Jean Sibelius, Béla Bártok, and Ernst von Dohnányi), a monumental magnum opus (as with Sergey Taneyev, Florent Schmitt, Arnold Bax, Wilhelm Furtwängler, and Berger himself), a central autobiographical opus (as with Alfred Schnittke), or a summa summarum of the composer's career (as with Nikolai Medtner's C-major Piano Quintet, op. post.). In this rich tradition, Berger's powerful, incisive, but at the same time lyrical and playful Piano Quintet numbers among those with ingratiating melodies and orchestral verve, but whose concertante element never undermines their character as chamber music.

In 1994, the MDG label released an excellent recording of op. 95 with Jost Michaels (piano) and the Verdi Quartet that is still available today. It grants an initial auditory impression of a work otherwise nonexistent in today's concert halls.

Translation: Bradford Robinson

 

For further reading

Gustav Ernest: Wilhelm Berger: ein deutscher Meister (Berlin, 1931).
Willi Kahl: "Wilhelm Berger," Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik, ed. Friedrich Blume, vol. 1 (Kassel, 1949), cols. 1693–95.
Irmlind Capelle: Booklet for Wilhelm Berger: Quintett op. 95 für Klavier, 2 Violinen, Viola und Violoncello (MDG, Detmold, 1994).
Herta Müller: "Wilhelm Berger: Verzeichnis des Noten-nachlasses in der Sammlung Musikgeschichte der Meiniger Museen/Max-Reger-Archiv" [2003], http://www.dematon.de/mm/pdf/Wilhelm_Berger_Notennachlass.pdf (accessed on 9 September 2010).

For performance material please contact Musikproduktion Höflich (www.musikmph.de), München. Reprint of a copy from the Musikbibliothek der Münchner Stadtbibliothek, München.