Lili Boulanger
(geb. Paris, 21. August 1893 — gest. Mézy-par-Meulan, 15. März 1918)

"Du fond de l'abîme"
Psalm 130

Lili Boulanger
Lili Boulanger wurde von ihrer älteren Schwester Nadia als »erste Komponistin überhaupt« betrachtet. In der Tat änderte sie ungeachtet ihres allzu kurzen, von Krankheit und Leid geprägten Lebens das Ansehen der Frau in der Welt der Musik. Sie wurde schon in früher Jugend als musikalisch vielversprechend erkannt, als sie, am Klavier begleitet von Gabriel Fauré, einige Lieder sang, und so erhielt sie eine gründliche musikalische Ausbildung. Sie begleitete bald Nadia zu ihren Stunden am Pariser Conservatoire und erhielt später selbst Kompositionsunterricht bei Paul Vidal. Ihre stets fragile physische Natur [Anmerkung des Übersetzers: seit einer schweren, frühkindlichen Infektion] behinderte zwar Entwicklung und Aussichten einer Karriere, doch ungeachtet ihres ernsten gesundheitlichen Zustandes widmete sie sich völlig dem Komponieren, fast, als ob dies ein Privileg ihrer Pubertät wäre. 1912 bewarb sich Lili Boulanger um den renommierten Prix de Rome, wie schon zuvor ihr Vater Ernest (großer Preis, 1835) und ihre Schwester Nadia (zweiter Preis, 1908), doch mußte sie aufgrund schlechter Gesundheit ihren Antrag später wieder zurückziehen. Im folgenden Jahr, nun 19 Jahre alt, bewarb sie sich erneut, und diesmal erfolgreich: Sie wurde die erste Frau überhaupt, die den höchst angesehenen Pariser Rom-Preis gewann, der ein Stipendium und einen mehrjährigen Künstler-Aufenthalt in der Villa Medici beeinhaltete. Dies Ergebnis war jedoch nicht nur aufgrund ihres Geschlechts bemerkenswert: Sie erhielt von der Jury eine überwältigende Mehrheit von 31 gegenüber 5 Stimmen (Schwartz, 1997). Allerdings zog die Verkündigung ihres Erfolgs frauenfeindliche Kommentare in der Presse nach sich. So heißt es in einer Rezension in Le ménestrel (12. Juli 1913, S. 227), daß »ihr Vorname die Puristen nicht erfreuen dürfte, denn obzwar sie den Rompreis gewonnen hat, ist so doch lediglich nur eine Frau.« Der Preis brachte eine Beschäftigung mit der Komposition von Liedern mit Orchesterbegleitung nebst Klavierauszügen mit sich, mit einem Schwerpunkt, neue, größere Werke und geistliche Musik zu schaffen. (Details zu den Anforderungen und Verpflichtungen im Rahmen der Annahme des Rompreises finden sich in den Protokollen der Académie des Beaux-Arts, Procès verbaux, im Archiv der Académie, untergebracht im Institute de France, Paris.)

Ihre tief empfundene Musik fungiert anscheinend als einzige Äußerung persönlicher Reflexion und emo-tionaler Ergüsse einer begabten Musikerin, die gefangen war in einem Körper, von dem sie klar erkannt hatte, daß er nicht lange überleben würde. Eine gequälte Erkenntnis ihrer Situation hat einige Forscher dazu verleitet, ihr Werk als autobiographisch zu interpretieren (darunter Rosenstiel, 1978). Ich dagegen betrachte ihre schönen und hoch emotionalen Psalm-Vertonungen als musikalisch kühn, eine individuelle Behandlung der Dissonanz neben einem besonderen Gespür für das Orchestertimbre enthüllend, das strenge Farben betont. Auch hört man darin deutlich eine Vorliebe für das Blech, Schlagzeug und Mittelstimmen. Da diese Werke in der Umgebung der Ereignisse des ersten Weltkriegs entstanden, mag es nicht überraschen, wenn ich aus ihnen eine Bitte an die gesamte Menschheit heraushöre, ihre Mitmenschlichkeit zu erkennen. Auch Annegret Fauser war der Ansicht, Lili Boulanger habe hier drei »Gebete für den Frieden« geschaffen (Fauser, 2007). Eine so deutliche musikalische Äußerung war ihrerzeit bedeutend, und sie ist es noch heute. Und als hingebungsvolle Katholikin, die ihre Psalmen gut kannte, wählte sie ausgerechnet die Psalmen 24, 129 und 130 – dies ist bedeutungsvoll..
"Du fond de l'abîme"
Psalm 130
Die Komposition dieser epischen Psalm-Vertonung begann 1914, während des ersten Aufenthaltes von Lili Boulanger in der Villa Medici zu Rom. Durch den Kriegsausbruch und ihre sich verschlechternde Gesundheit zog sich die Fertigstellung lang hinaus. Es scheint, als ob sie bei ihrem zweiten Rom-Aufenthalt wieder an die Arbeit an dem Werk zurückkehrte, doch die Instrumentierung wurde erst im Herbst 1917 im Haus ihrer Familie in Gargenville fertiggestellt, also nach Beendigung ihres zweiten Rom-Aufenthaltes.

Dieses Stück ist unmittelbar persönlich und es ist sicher gerechtfertigt, es im Zusammenhang mit der Biographie der Komponistin zu betrachten, denn sie widmete es dem Andenken ihres Vaters, der starb, als sie gerade sechs Jahre alt war. Nach Léonie Rosenstiel wies auch Caroline Potter in ihrer Monographie (2006) darauf hin, daß Lili Boulanger in ihren Skizzenbüchern verschiedene Titel für das Werk erwog, darunter »Gesang des persönlichen Gefühls« (Potter, S. 97). Der endgültige Titel entspricht schließlich dem Beginn der ersten Zeile des zugrundeliegenden Textes, und auch, wenn dies weniger persönlich scheint, ist es doch angemessen für ein so umfangreiches Werk, das für die Aufführung im Konzertsaal gedacht ist. Mit dem Erfolg des Rompreises hinter sich markiert dieses Werk ihre erste bedeutende Ankunft als reife Komponistin; hier änderte sie ihren Stil hin zu einer symphonisch geschlossenen Chorvertonung dieses Psalms. Es wird oft als eins ihrer Meisterwerke bezeichnet, neben ihrer Siegerinnen-Kantate Faust et Hélène (1913). Der Psalm 130 Du fond de l'abîme (De Profundis) ist darüber hinaus auch ein groß angelegtes Werk, das ihre kompositorische und »spirituelle Reife« beweist (Palmer, 1993). In dieser Phase ihres Lebens war ihr sicherlich bereits deutlich, daß sich ihre Gesundheit nicht mehr verbessern würde (eine Operation während der Komposition dieses Werkes blieb erfolglos). Dessen ungeachtet investierte sie viel Energie und Hingabe in ihre Psalm-Vertonungen, die sie zu neuen Höhen schöpferischen Könnens beflügelten. Für einen so jungen Menschen wirkt Psalm 130 auf den Hörer so ausgereift und tief empfunden wie nach einem langen Leben voller Gefühls-Erlebnisse: Man kann sich kaum jemanden vorstellen, der nach dem Hören des Werks nicht einen Kloß im Hals oder eine Träne im Auge hat.

Psalm 130 ist ein besonderes Juwel unter den Werken Lili Boulangers – ein Zeugnis ihrer Meisterschaft in der Beherrschung des Orchesters, das viele Ansatzpunkte zur Analyse ihrer stilistischen Entwicklung bietet. Dieser als Erster begonnene, doch als Letzter beendete der drei Psalmen unterscheidet sich von den anderen beiden beträchtlich, sowohl bezüglich der Orchesterbehandlung wie auch der Textvertonung und Länge. Insbesondere ist im Psalm 130 der Text nicht durchgängig gesetzt, sondern adaptiert, wobei Abschnitte immer wieder wiederholt werden (besonders Anfangszeilen und heilige Namen); außerdem gibt es wortlose, vokalisierende Abschnitte (wie schon in Psalm 129 und anderen früheren Werken). Der Text ist in einer Art und Weise behandelt, daß die inhaltliche Bedeutung zur Projektion der eigenen Qual und Pein wird. Dieses intime Vorgehen veranlaßte Palmer, von Lili Boulanger als »Poetin in Klängen« zu sprechen (Palmer, 1993).

Für den Solo-Alt stehen in der Partitur weit gehaltvollere Soli als für den Tenor. Der Alt steht für Bitten, Fragen und Nachtwachen des Menschen. Die Vorliebe der Komponistin für mittlere Singstimmen und tiefe Orchesterklänge entspricht der Dunkelheit des Textes (»Aus tiefstem Abgrund rufe ich, Herr, zu Dir«). Der Text ist syllabisch vertont, um klare Verständlichkeit zu gewährleisten. Ein leiser Vokaleinsatz wird mit hohen Holzbläsern, Harfe und tieferen Orgelregistern gestützt, kontrastierend mit geteilten Violinen im hohen Register, die ein E in Oktaven aushalten (in gleicher Höhe wie der Alt). Die Text-Teile in der ersten Person sind üblicherweise den SolistInnen zugeteilt, die Entwicklung der Erzählung befördernd und einen Kontrast zwischen Soli und Chor herstellend. Der erste Solo-Tenor-Einsatz erscheint bei Ziffer 19, im Kanon zum Alt, eine Quinte tiefer und in präziser rhythmischer Imitation, um Erlösung bittend. Die enge Stimmführung dieser Stelle ist bedeutsam und unterstreicht die Vorliebe der Komponistin für bestimmte Register. Ihre große Detailfreude bei Fragen der Farbe und Klangfülle tritt bei Ziffer 20 hervor, wo vier Sopran-Stimmen das Alt-Solo unterstützen, während zwei Alt- und zwei Bass-Stimmen die Chorlinie übernehmen. Während Solist und zwei Sopran-Stimmen weiterhin zusammen singen, treten zwei weitere Tenöre und dann fünf oder sechs Sopran-Stimmen hinzu. Der geteilte, reduzierte Chor mit nur wenigen Beteiligten pro Stimme erzielt ein subtiles, doch warmes Timbre. Bei Ziffer 21 überlappen die reduzierten Vokalstimmen dann mit dem Wieder-Eintritt der übrigen Alt-, Tenor- und Baß-Stimmen.

Auch Tonarten-Symbolik ist in den Psalmen zu finden: In Psalm 24 steht d-moll für positive Gefühle; in Psalm 130 repräsentiert b-moll den unterdrückten, ja verfolgten Menschen. B-moll wird um modale Färbungen erweitert, oft mittels erniedrigter Septimen – wodurch die natürliche Strebung des Leittons in die Tonika aufgehoben wird – und nicht aufgelöster Dissonanzen (insbesondere Sekund und Septime). Wie schon bei Fauré werden Bewegungen zwischen Tonika und Dominante meist vermieden, die sonst eigentlich tonale Stabilität gewährleisten; stattdessen wird oft die Dominante durch die dritte Stufe ersetzt. Eine weitere verborgene Bedeutung mag auch gerade in der Auswahl des Psalms 130 liegen, denn die 13 gilt als symbolische Schlüsselzahl von Lili Boulanger; so besteht zum Beispiel ihr Zyklus Clairières dans le ciel (1914) aus 13 Liedern (Dopp, 1994). [Anmerkung des Übersetzers: Die Komponisten benützte die Zahl 13 wie eine Signatur, da ihr Name aus 13 Buchstaben bestand; vergl. auch Rosenstiel, deutsche Ausgabe, S. 179.]

Orchestraler Symbolismus wird für den Beginn verwendet: Eine lange Einleitung bereitet den ersten Vokaleinsatz vor. Streicher in tiefen Registern, Orgel, Tuba und Hörner legen einen leisen, akkordischen Grund. Dabei gibt es eine ungewöhnliche Klangfarbe – Solo-Cello und Tuba spielen Unisono das absteigende Tonmotiv. Die Register streben aufwärts, indem höhere Instrumente hinzugefügt werden, bis die Trompete das anfängliche Motiv wiederholt. Nach Ziffer 1 erscheinen dann in bemerkenswertem Kontrast die extrem hohen Register der gedämpften ersten und zweiten Violinen. Solche Kontraste zwischen den Sektionen des Orchesters sind ein bestimmendes Charakteristikum von Lili Boulangers Orchesterwerken und verdeutlichen hier den Fortgang der Handlung im Rahmen ihrer dunklen Text-Interpretation. Diese Text-Reflexion wirkt so intensiv, daß der Hörer gefangen wird in einer Abfolge von Bitten, Fragen und Suchen, die schließlich recht unerwartet in einen Schluß führt, dem es deutlich an jenem Optimismus mangelt, der in Psalm 24 noch zutage trat. Die Musik fällt zurück in die dunklen Orchesterklänge des Anfangs, im Pianissimo, nach einer Verlangsamung des Tempos, die pessimistisch auf den Grundtenor des Psalmtextes rekurriert. Wie schon in Psalm 24 und 129 gibt es auch reich verwendete Ostinati: Die Wiederholung entspricht dem Ausdruck der Unterdrückung des Menschen; Lerner bemerkte allerdings, daß diese Kompositionstechnik auch eine Zeitersparnis für die unter ihrer Krankheit schwer leidende Komponistin bedeutet habe; durch das Wiederholen notierter Motive wird das Material optimal ausgenutzt. Auch gestattet es die Wiederholung kleiner Motive in Psalm 130 eine Durchführungsarbeit durch die wechselnden Orchesterkräfte hindurch.

Psalm 130 ist ein intensives Werk, daß alle Erken-nungszeichen kompositorischer Reife trägt. Lili Boulanger war allerdings erst 22 Jahre alt, als sie es beendete. Ungeachtet der heutigen positiven Rezeption dieses Stückes wurde es zu ihren Lebzeiten nicht aufgeführt. [Anmerkung des Übersetzers: Die Uraufführung der Psalmen und des Prière Bouddhique erfolgte erst am 8. November 1923 unter Leitung von Henri Büsser in der Pariser Oper.] Heute ist der Psalm durch eine Reihe von CD-Einspielungen erhältlich; die Aufnahmen bei Chandos (1999) und Deutsche Grammophon (2002) enthalten leidenschaftliche Aufführungen mit sprachlich guten Mezzosopran- und Tenor-Soli, die dem Hörer erlauben, dem Text gut zu folgen, der von so grundlegender Bedeutung für die musikalische Entwicklung der Komponistin ist. Geistliche Musik lag ihr besonders am Herzen: Noch auf dem Sterbebett diktierte sie 1918 ihrer Schwester Nadia eine Vertonung des Pie Jesu in die Feder. [Anmerkung des Übersetzers: Ein Bestandteil der Requiems-Liturgie.] Noch ihr letztes musikalisches Wort war mithin ein autobiographischer Aufruf zum Frieden. Vielleicht hat sie schon geahnt, daß diese Musik bei ihrer eigenen Beerdigung erklingen würde.

Helen Julia Minors, ©2011
Übersetzung ins Deutsche: Benjamin-Gunnar Cohrs, © 2011

Aufnahmen
Lili Boulanger: Faust et Hélène, D'un matin de printemps, D'un soir triste, Psaume 130, Psaume 24; City of Birmingham Symphony Chorus, BBC Philharmonic, Yan Pascal Tortelier CHANDOS CD CHAN 9745 (1999)

Lili Boulanger: Psalm 130 (Du fond de l'abîme), Psalms 24 & 129, Vieille Priere bouddhique; Igor Stravinsky: Symphony of Psalms; London Symphony Orchestra, The Monteverdi Choir, Sally Bruce-Payne (Mezzosopran), Julian Podger (Bariton), John Eliot Gardiner; Deutsche Grammophon CD B000068PHA (2002)

Literatur
Bonnie Jo Dopp, ›Numerology and Cryptography in the Music of Lili Boulanger: The Hidden Programme in Clairières dans le ciel‹, in: The Musical Quarterly, 78/3 (Herbst 1994), S. 576

Annegret Fauser (mit Robert Orledge): ›Boulanger, (Marie-Juliette Olga) Lili‹, in: The Grove Dictionary of Music and Musicians, ed. Stanley Sadie, 4 (Macmillan, London 2001), S. .95–96. Auch verfügbar unter: http:///www.oxfordmusiconline.com:80/subsciber/article/grove/music/03704 (von der Autorin zuletzt konsultiert am 13. Dezember 2010)

Gerald Larner: Programmheft-Text ›Lili Boulanger: Psalm 130‹, Tortelier Festival (22. Mai 1999), Bridgewater Hall, Manchester, UK, S. 6–8

Christopher Palmer: ›The Boulanger Phenomenon‹, Gramophone (Juli 1993), S. 30–31

Caroline Potter: Nadia and Lili Boulanger (Ashgate, Aldershot 2006)

Léonie Rosenstiel: The Life and Works of Lili Boulanger (Associated University Presses, Cranbury/NJ, 1978)

Manuela Schwartz, ›Mehr als ein Gesellenstück: Lili Boulangers Faust et Hélène‹, in: Lili Boulanger: Vom Schweigen befreit, 3 (Internationales Komponistinnen-Festival Kassel, Kassel, 1993), S. 64–71.

Aufführungsmaterial
Klavierauszug und Orchesterstimmen sind bei Durand, Paris erschienen. Nachdruck eines Exemplars aus der Sammlung Andrei Golovin, Moskau.

Piano scores and orchestral parts are available from Editions Durand, Paris. Reprint of a copy from the collection Andrei Golovin, Moscow.

Nachbemerkung des Übersetzers
Von der Autorin nicht erwähnt wurde diese sehr gute Aufnahme: Lili Boulanger, 3 Psaumes, Vieille prière bouddhique, Pour les funérailles d'un soldat, D'un soir triste, D'un matin de printemps; Sonia de Beaufort (Mezzosopran), Martial Defontaine (Tenor), Vincent Le Texier (Bariton), Chœur Symphonique der Namur, Orchestre Philharmonique du Luxembourg, Mark Stringer; Timpani CD 1C1046 (1998). Sie hat gegenüber den oben erwähnten den Vorzug, daß die Musik in der sehr einfühlsamen Interpretation von Mark Stringer nicht nur von französischen Sängerinnen und Sängerinnen erstklassig und sprachlich authentisch vorgetragen wird; es ist auch die einzige Einspielung, auf der alle fünf großen Chorwerke gemeinsam zu finden sind, welche nach Ansicht des Übersetzers einen ideellen Zyklus bilden. Den Plan dazu faßte die Komponistin bereits 1911, notiert in ihrem persönlichen Skizzenbuch: »Le glas avec le Dies irae; Carillon Baptême; Chant Grave; Chant d 'émotion personelle; Chant de paix planant au-dessus de tous« (»Totengeläut mit Dies irae; Glockengeläut zur Taufe; Ernster Gesang; Gesang des persönlichen Gefühls; Gesang des Friedens, über allem schwebend«) Dies stimmt völlig mit den fünf Werken überein, die Lili Boulanger erfreulicherweise auch noch allesamt beenden konnte – Pour les funérailles d'un soldat, den Psalmen 24, 129 und 130 sowie dem Vieille prière bouddhique. Unbedingt hingewiesen werden muß auch auf die historische Erstaufnahme der Psalmen und des Prière durch das Orchestre Lamoureux und den Chor Elisabeth Brasseur unter Leitung von Igor Markevich (EMI, 1960). Schließlich hat auch Nadia Boulanger die Werke ihrer Schwester als Dirigentin zeitlebens immer wieder selbst aufgeführt. Ein bedeutsamer, historischer Mitschnitt des Gedenkkonzertes zum 50. Todestag von Lili Boulanger mit dem BBC Symphony Chorus und Orchestra unter Nadia Boulangers Leitung vom November 1968 (Psalm 24 & 130, Pie Jesu, Fauré, Requiem) ist von verschiedenen Labels auf CD erhältlich.

Da die zitierten englischen Titel in Deutschland schwer erhältlich sind, sei hier auch auf die erweiterte deutsche Ausgabe des Standard-Werks von Lèonie Rosenstiel hingewiesen (Lili Boulanger. Leben und Werk, hrsg. von Kathrin Mosler, Zeichen + Spuren Verlag, Bremen/Worpswede 1995, ISBN 3-924588-22-8) Weitere interessante Einzelaufsätze und Studien enthält schließlich der Festival-Katalog zu den Lili Boulanger Tagen 1993 in Bremen anläßlich des 100. Geburtstags der Komponistin (Hrsg. von Kathrin Mosler; Beiträge von Cecile Armagnac, Nadia Boulanger, Beatrix Borchard, Sylvie Croguennoc, Olivia Mattis, Annemarie van Osten, Eva Rieger, Leònie Rosenstil, Birgit Stièvenard-Solomon, Jacques Avenel, Benjamin-Gunnar Cohrs; Zeichen + Spuren Verlag, Bremen/Worpswede 1993, ISBN 3-924588-24-4; Bezug beider Bücher und Info: k.mosler@t-online.de).

 

Psaume 130: Du fond de l´abîme
»À la memoire de mon cher Papa«

Du fond de l'abîme je t'invoque Iahvé, Iahvé, Adonai:
ecoute ma prière!
Que tes oreilles soient attentives aux accents de ma prière,
Iahvé, Iahvé, Adonai,
du fond de l'abîme je t'invoque Iahvé,
je cries vers toi, Iahvé, Adonai.
Ecoute ma voix, ecoute ma prière, Iahvé,
Que tes oreilles soient attentives aux accents de ma prière!
Iahvé! Adonai! Je t'invoque Adonai!
Du fond de l'abîme je cries vers toi, Adonai!
Ecoute ma prière!
Je cries vers toi, Iahvé!
Je cries vers toi, Adonai!
Que tes oreilles soient attentives aux accents de ma prière!

Si tu prends garde aux péchés, Adonai,
qui donc pourra tenir, Adonai, Iahvé.
Du fond de l'abîme je cries vers toi, Iahvé, Adonai!
Si tu prends garde aux péchés, Adonai,
qui donc pourra tenir, Adonai, Iahvé.

Mais la clémence est en toi afin qu'on te révère.
Mon âme espère en Iahvé.
J'espère, je compte sur sa parole plus que les guetteurs
de la nuit n'aspirent au matin.
Mon âme espère en Adonai plus que les guetteurs
de la nuit n'aspirent au matin, Adonai.

La clémence est en Iahvè, afin qu'on te révère.
Mon âme espère en Iahvé, j'espère en toi,
j'espère en Iahvé, j'espère en toi parole,
j'espère en ta clémence, je t'invoque Iahvé, Adonai:
Ecoute ma priére!
Israel espère en Iahvé.

Car en Iahvé est la miséricorde et l'abodance de la déliverance.
C'est lui qui délivrera Israel de toutes ces iniquités.
Israel espère en la clémence de Iahvé.

Du fond de l'abîme j'espère en toi.
Du fond de l'abîme je t'invoque, Iahvé, Adonai:
Ecoute ma priére, Iahvé, Adonai!

Psalm 130: Aus der Tiefe des Abgrunds
»Zum Gedenken an meinen lieben Papa«

Aus der Tiefe des Abgrunds rufe ich Dich an,
Jahwe, Jahwe, Adonai: erhöre mein Gebet!
Laß Deine Ohren merken auf die Worte meines Gebets,
Jahwe, Jahwe, Adonai,
aus der Tiefe des Abgrunds rufe ich Dich an, Jahwe,
ich flehe Dich an, Jahwe, Adonai.
Erhöre meine Stimme, erhöre mein Gebet, Jahwe,
Laß Deine Ohren merken auf die Worte meines Gebets!
Jahwe! Adonai! Ich rufe Dich an, Adonai!
Aus der Tiefe des Abgrunds flehe ich Dich an, Adonai!
Erhöre mein Gebet!
Ich flehe Dich an, Jahwe!
Ich flehe Dich an, Adonai!
Laß Deine Ohren merken auf die Worte meines Gebets!

Denn Du vergibst alle Sünden, Adonai,
denen, die Dich fürchten, Adonai, Jahwe.
Aus der Tiefe des Abgrunds flehe ich Dich an, Jahwe. Adonai!
Denn Du vergibst alle Sünden, Adonai,
denen, die Dich fürchten, Adonai, Jahwe.

Denn die Gnade ist Dein, auf daß man Dich fürchte.
Meine Seele hofft auf Jahwe.
Ich hoffe, ich baue auf sein Wort mehr als die Späher
in der Nacht den Morgen erwarten.
Meine Seele hofft auf Adonai mehr als die Späher
in der Nacht den Morgen erwarten, Adonai.

Die Gnade liegt bei Jahwe, auf daß man ihn fürchte.
Meine Seele hofft auf Jahwe, ich hoffe auf Dich,
ich hoffe auf Jahwe, ich hoffe auf Dein Wort,
ich hoffe auf Deine Gnade, ich rufe Dich an, Jahwe, Adonai!
Erhöre mein Gebet!
Israel hofft auf Jahwe.

Denn bei Jahwe liegt Erbarmen und Erlösung von allem Übel.
Er ist es, der Israel von allen Sünden befreien wird.
Israel hofft auf die Gnade von Jahwe.

In der Tiefe des Abgrundes hoffe ich auf Dich.
Aus der Tiefe des Abgrundes rufe ich Dich an, Jahwe, Adonai:
Erhöre mein Gebet, Jahwe, Adonai!

[Neu übertragen von Benjamin-Gunnar Cohrs, © 1993]

Lili Boulanger
(b. Paris, 21 August 1893 — d. Mézy-par-Meulan, 15 March 1918)

"Du fond de l'abîme"
Psalm 130

 

Lili Boulanger
Seen as "the first woman composer" by her sister Nadia Boulanger, in her extremely short life which was plagued by illness, Lili Boulanger changed the face of women in music. Identified as a promising musician at a very early age, singing songs with Fauré's accompaniment at the piano, Lili received a thorough musical education. She had accompanied her sister, Nadia, to classes at the Paris Conservatoire and later received composition lessons from Paul Vidal. Her frail physical state however hampered her development and career prospects. Despite a serious intestinal condition she dedicated herself to composition as though it were a right of passage. Following her father Ernest (Grand Prix de Rome 1835) and sister Nadia (Second Prix 1908), she submitted herself for entry to the Prix de Rome in 1912, which she later withdrew from due to her health. But at the age of 19, in 1913 she made a second attempt, this time succeeding as the first woman to win the prestigious Prix de Rome in Paris which awarded time in Rome at the Villa de Medici. The result was striking not only due to her gender, but also due to the overwhelming majority vote she received from the jury: thirty-one votes to five (Schwartz 1997). Misogynistic remarks littered the press following the announcement of her win. A review in Le ménestrel (12 July 1913 [p. 227]) noted that her "first name seems to displease the purists: though she is the winner of the Prix de Rome, she is no less of a woman." This prize brought with it a requirement to compose songs with orchestral accompaniment and piano reduction, with an emphasis on producing some large scale works and sacred music. (Details of the requirements of and events within the Prix de Rome can be found in minutes of the Académie des Beaux-Arts, Procès verbaux, housed in the Archives of the Académie des Beaux-Arts in the Institute de France, Paris.)

Her heartfelt music seems to act as her only means of personal reflection and emotional outpouring of a trapped talented musician in a body which she clearly recognised would not survive for long. A tortured recognition of her situation has led scholars to read her work as autobiographical (among them, Rosenstiel, 1978). I see her beautiful and highly emotional psalm settings as musically daring, revealing an individual use of dissonance, along with an attention to orchestral timbre which emphasises strong colours. A penchant for brass, percussion and mid-range voices is clearly heard in her Psalms. Written surrounded by the effects of the First World War, there is perhaps no surprise that I hear a plea to all mankind to recognise their shared humanity. As Fauser has identified, Lili creates three "prayers for peace" (2007). Such a clear musical utterance is highly relevant both then and now. As a devoted catholic Lili would have known her psalms well, making her choice of three – Psalms 24, 129 and 130 – significant.

 

"Du fond de l'abîme"
Psalm 130
Composition of this epic Psalm setting began during her first stay at the Villa Medici in Rome, in 1914. With the outbreak of war and her deteriorating health it had a long gestation. On her second visit to Rome it seems she returned to the work, though she completed the orchestration of it at her family home in Gargenville, following her second departure from Rome, in 1917.

This work is immediately personal and one is well justified in interpreting this work alongside Lili's biography as it is dedicated to her father who died when Lili was only 6 years old. Caroline Potter's monograph (2006) outlines the content of Lili's sketch books during this period, noting that Lili had many titles for this work, including "Song of personal feeling" (p. 97). The final title is the same as the first vocal entry, and although this seems less personal, it is more appropriate for a large scale work of this nature, which is for performance in the concert hall. With the success of the Prix de Rome behind her, this work marks her first significant departure as a mature composer, in which she forges her style and develops a symphonically cohesive choral setting of this psalm. It is often referred to as one of her masterpieces, along side her winning Cantata, Faust et Hélène (1913). Du fond de l'abîme (De Profundis) is also a large scale work which demonstrates her compositional and "spiritual maturity" (Palmer 1993). By this stage in her life, she would have been aware that her health was not going to improve (she had surgery during the composition of this work which proved to be unsuccessful). Despite this, she placed much energy and dedication to these psalm settings, which seemed to push her to the heights of her creative ability. For one so young Psalm 130 strikes the listener as a well matured, heartfelt work supported by a life-long of emotional experience: it is hard to imagine any listener not being left with a lump in their throat or a tear in their eye.

Psalm 130 is a pure gem among her works. It is a testament to Lili Boulanger's orchestral mastery and has much to offer for an analysis of her developing style. Though the last of three psalms to be completed, yet the first to be started, it is very different to the other two, both orchestrally, in text setting and in length. Specifically, within Psalm 130 she appropriates the text. The psalm is not set continuously; rather, she adapts it, repeating sections (especially the opening lines and holy names), and using wordless passages (as she does briefly in Psalm 129 and other earlier works). She sets the text in such a way as to project the meaning of the psalm through her personal understanding of pain and suffering. Such an intimate reading led Palmer to label Lili Boulanger as "a poet-in-sound" (Palmer 1993).

There is a substantial alto solo, far more than the tenor is allocated in the score. The alto represents the pleas, questions and night-watches of the people. Lili's penchant for mid range voices and lower orchestral timbres here reflect the dark quality of her text: "Du fond de l'abîme" (Out of the depths). The text is set syllabically, ensuring clear projection. A piano vocal entry is supported by lower woodwind, harps and the lower register of the organ, contrasted against upper register divided violins which hold a sustained E in octaves (the same pitch which Lili gives to the alto). The text which uses the first person is given to the soloists, supporting a developing narrative and a contrast between soloists and choir. The first tenor solo entry occurs at after figure 19: Lili sets it in canon with the alto. Starting a fifth lower than the alto, and using precise rhythmic imitation, the soloists ask for redemption. The close part writing of these lines is significant and further emphasises her liking of specific registers.

Lili Boulanger's detail to timbre and sonority is evidenced at figure 20, when she requests that 4 sopranos support the alto solo, while 2 altos and 2 basses sing the choral lines. 2 tenors and then 5 or 6 sopranos enter (while the soloist and 2 sopranos continue to sing together). The divided reduced choir where there are only a few voices to a part creates a subtle and warm timbre. By figure 21 the limited vocal lines overlap with the re-entry of the rest of the altos, tenors and basses.

Symbolisms can be interpreted within her Psalms: in Psalm 24 e minor represents positive emotions, whereas in Psalm 130 b flat minor is used to represent a suppressed almost persecuted people. The key of b flat minor is expanded with modal inflections (often flattened sevenths) – thereby removing the natural gravity of the leading note moving to the tonic – and by using unresolved dissonances (especially of the second and seventh). Like Fauré, she often avoids moving between tonic and dominant which provides a firm tonal foundation, and replaces the dominant for chord III. Hidden meaning may also reside in her choice of Psalm 130, as Lili had an interest in the number 13, including setting 13 poems in Clairières dans le ciel (1914) (Dopp 1994).

Orchestral symbolism is employed from the opening passage. A lengthy introduction prepares for the first vocal entry. Low register strings, organ, tuba and horns build a pianissimo chord. An unusual sonority is created: from bar 3 Lili employs solo cello and tuba in a unison descending tone motive. The register ascends as instruments are added until the trumpets repeat the descending tone motive. Then a notable contrast occurs from figure 1, with the extreme upper register of muted first and second violins. Sectional contrasts are a determining characteristic of Lili's orchestral settings and are used to lead toward the narrative within her dark interpretation of the text.

Lili's music so intensively reflects the text that the listener is suspended in a narrative of pleas, questions and searches, which lead perhaps unexpectedly to a close which starkly lacks the optimism one can hear in Psalm 24. She chooses to close back in the lower ranges of the orchestra, pianissimo, following a decrease in tempo, which creates a pessimistic response to the meaning of the psalm.

As noted in Psalms 24 and 129, there is much use of ostinatos: the repetition adds to the suppression of the people. It has been noted (Larner 1999) that the use of ostinatos may be a time saving device of a composer suffering from ill health; writing and repeating a motive utilises the material to the maximum. The repetition of small motives within Psalm 130 however allows the composer to develop the work through the changing orchestral forces.

Psalm 130 is intense and bears all the hallmarks of a mature composer, yet Lili was only 22 when she com-pleted it. Despite the positive reception of this work today, it was not performed in Lili's own lifetime. It is accessible today on a number of recordings, both Chandos (1999) and Deutsche Grammophone(2002) give passionate performances with clear enunciation by the mezzo-soprano and tenor soloists allowing the listener to clearly interpret the text, which was so integral to Lili's musical development. Sacred music was at the heart of Lili's work: on her death bed she dictated her last work to her sister, Nadia, a setting of the Pie Jesu (1918). This last word-music call for peace was autobiographical; she likely knew that it would be performed at her own funeral.

Helen Julia Minors, ©2011

Recordings
Lili Boulanger: Faust et Hélène, D'un matin de printemps, D'un soir triste, Psaume 130, Psaume 24; City of Birmingham Symphony Chorus, BBC Philharmonic, cond. Yan Pascal Tortelier CHANDOS CD CHAN 9745 (1999)

Lili Boulanger: Psalm 130 (Du fond de l'abîme), Psalms 24 & 129, Vieille Priere bouddhique; Igor Stravinsky: Symphony of Psalms; London Symphony Orchestra, The Monteverdi Choir, Sally Bruce-Payne (mezzo soprano), Julian Podger (baritone), cond. John Eliot Gardiner; Deutsche Grammophon CD B000068PHA (2002)

Literature
Bonnie Jo Dopp, 'Numerology and Cryptography in the Music of Lili Boulanger: The Hidden Programme in Clairières dans le ciel', The Musical Quarterly, 78/3 (Autumn 1994), p. 576.

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Gerald Larner, Programme Notes to 'Lili Boulanger: Psalm 130', Tortelier Festival (22 May 1999), Bridgewater Hall, Manchester, UK, 6–8.

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Léonie Rosenstiel, The Life and Works of Lili Boulanger (Cranbury, NJ: Associated University Presses, 1978).

Manuela Schwartz, 'Mehr als ein Gesellenstück: Lili Boulangers Faust et Hélène', in Lili Boulanger: Vom Schweigen befreit, 3 (Internationales Komponistinnen-Festival Kassel: Kassel 1993), 64–71.

Performance Material
Piano scores and orchestral parts are available from Editions Durand, Paris. Reprint of a copy from the collection Andrei Golovin, Moscow.