Nikolai Rimsky-Korsakow
(geb. Tichwin bei Nowgorod, 18. März 1844 – gest. St. Petersburg, 21. Juni 1908)

Bojarinja Wera Scheloga
(“Die Adelige Wera Scheloga”)
Oper in einem Akt (1875-98)
Libretto vom Komponisten nach dem Drama Pskowitjanka von Lev Alexandrovich Mey

Vorwort
Bei Bojarinja Wera Scheloga handelt es sich um eine einaktige Historienoper, die frei auf dem frühen Leben Iwans des Schrecklichen basiert. Am treffendsten wäre sie wohl als “Abfallprodukt” der großen Ansammlung von Materialien zu bezeichnen, die über einen Zeitraum von 30 Jahren in Verbindung mit dem allerersten Opernprojekt Rimsky-Korsakows – Pskowitjanka (“Das Mädchen von Pskow”) – entstand. Wie diese Materalien insgesamt fußt auch Wera Scheloga auf dem historisch-aufklärerischen Theaterstück Pskowitjanka von Lev Alexandrovich Mey (1822-1862), das der Frage nachgeht: Warum hat Iwan die große Handelsstadt Nowgorod in Schutt und Asche gelegt, die Nachbarstadt Pskow jedoch verschont? Mei zufolge liegt die Antwort auf diese Frage in der Titelfigur Olga, dem „Mädchen von Pskow“, das sich schließlich als die uneheliche Tochter Iwans mit einer Adeligen namens Wera Scheloga entpuppt. Indem der Zar mit dieser Frucht einer frühen Liebschaft plötzlich konfrontiert wird, beschließt er die Stadt Pskow doch zu verschonen, allerdings erst nachdem einige Intrigen und Aufstände niederschlagen sind und Olga selber im Taumel des Gefechts versehentlich ums Leben kommt.

Als Rimsky-Korsakow 1868 das Opernprojekt anvisierte, kam ihm der Gedanke, die Oper würde durch die Aufnahme des ersten Akts von Meis Drama mit der Darstellung der frühen Liebesaffäre Iwans und der Abstammung Olgas zu umfangreich und unausgeglichen. Daher beschloß er, den ersten Akt ganz wegzulassen und die Oper zu einem Zeitpunkt anzusiedeln, als das Heer Iwans 15 Jahre später – nach der Eroberung Nowgorods und dem Massaker an seiner Bevölkerung – gegen die Stadt Pskow aufmarschiert. Danach hielt der Komponist – abgesehen von einigen Strichen – an der literarischen Vorlage bis zum (für Iwan) triumphalen Schluß weitgehend fest. Diese erste Fassung von Pskowitjanka, die Rimsky gleichzeitig mit der Entstehung des problembehafteten Meisterwerks Boris Godunow seines Petersburger Zimmerkameraden Modest Mussorgsky komponierte, wurde 1872 abgeschlossen und am darauffolgenden 13. Januar – nach Überwindung einiger Widerstände seitens der Zensur – im Petersburger Mariinsky-Theater erfolgreich uraufgeführt. Weitere Inszenierungen kamen jedoch nicht zustande.

1876/77 machte sich Rimsky-Korsakow daran, die Partitur von Pskowitjanka grundlegend zu revidieren, um dem Werk zu einem breiteren Bekanntheitsgrad zu verhelfen. Als Teil dieser Umarbeitungen wurde diesmal auch der verworfene erste Akt von Meis Drama als Prolog zurechtgemacht und vertont. Im Großen und Ganzen waren allerdings sowohl der Komponist als auch die Theaterwelt mit dem Ergebnis unzufrieden („langatmig, trocken und schwerfällig“: so das Fazit des Komponisten), und die zweite Fassung ging schließlich nie über die Bretter. Rimsky-Korsakow benutze jedoch dieses Material als Steinbuch, aus dem er 1877 nicht nur eine Bühnenmusik zu einer Inszenierung des ursprünglichen Theaterstücks, sondern auch – über 20 Jahre danach – den Operneinakter Bojarinja Wera Scheloga gewann.

In den Jahren 1891/92 – zu einem Zeitpunkt, als Rimsky-Korsakow seine sämtlichen früheren Kompositionen im Lichte seiner schwer erkämpften kompositionstechnischen Meisterschaft einer gründlichen Revision unterzog – faßte er Pskowitjanka erneut ins Auge und erstellte daraus eine dritte Fassung, die sich auch bis zum heutigen Tag im Repertoire behaupten konnte. Diese dritte Fassung, die am 18. April 1895 in Petersburger Panajewski-Theater uraufgeführt wurde, verzichtet jedoch auf den Prolog und wird meist in dieser dreiaktigen Form ohne Prolog heutzutage aufgeführt.

1898 wandte sich Rimsky-Korsakow dem verworfenen Prolog aus der zweiten Fassung von Pskowitjanka zu. Was dann passierte, läßt sich wohl mit seinen eigenen Worten am besten beschreiben: “Im Frühjahr 1898 [...] befaßte ich mich abermals mit der Pskowitjanka: Ich schrieb den Prolog unter dem Titel Die Bojarin Wera Scheloga neu und gab ihm eine Form, in der er gleichermaßen als selbständiger Einakter wie auch als Prolog zu meiner Oper gespielt werden konnte. Den größeren Teil der Erzählung Weras übernahm ich mit kleinen Änderungen aus dem Prologentwurf zur zweiten Pskowitjanka-Fassung der siebziger Jahre, ebenso das Finale; den gesamten ersten Teil mit Ausnahme des Wiegenliedes schrieb ich ganz neu, und zwar mit meinem neuen vokalen Kompositionsstil. Das Wiegenlied wurde lediglich überarbeitet. Die Wera Scheloga war in kurzer Zeit vollendet und instrumentiert.”
Die neu umgearbeitete und aufpolierte Wera Scheloga wurde am 27. Dezember 1898 im Moskauer Solodownikow-Theater uraufgeführt und mit Erfolg aufgenommen, seitdem führt sie auch als selbständige einaktige Oper im Verismo-Stil ein eigenes musikalisches Dasein. Der Komponist hatte jedoch ihre ursprüngliche Bestimmung als Opernprolog nicht vergessen: 1901 wurde Wera Scheloga in ihrer ursprünglichen Funktion als Prolog eingesetzt, als der ganze Scheloga /Pskowitjanka-Komplex am 23. Oktober 1901 im Kaiserlichen Theater Moskau aufgeführt wurde. Obwohl die Inszenierung als Ganzes mit großem Erfolg in die Musikgeschichte einging und der Oper auch zu weltweitem Ruhm verhalf, bemerkte Rimsky ahnungsvoll in seiner Autobiographie, daß dem Prolog nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt würde. Bei einer stürmisch gefeierten Neuinszenierung am 10. November 1903 im Petersburger Mariinsky-Theater funktionierte Wera Scheloga erneut als Prolog zu Pskowitjanka, danach schied sie jedoch aus der Partitur der größeren Oper aus, die – wie es sich herausstellte – sehr wohl auf einen Prolog verzichten konnte. Die westeuropäische Erstaufführung von Wera Scheloga als Prolog zu Pskowitjanka fand erst 1978 statt, und zwar in einer konzertanten Aufführung durch die Radiotelevisione Italiana Turin. Demgegenüber ist Wera Scheloga als selbständiges Werk gelegentlich aufgeführt und auch auf Platte erschienen, so mit dem Bulgarischen Radio-Symphonieorchester unter Stojan Angelov und zweimal mit dem Bolschoi-Theaterorchester unter S. Sakharov bzw. Mark Ermler. Kurz nach der Premiere wurde die Oper 1898 als Partitur und Klavierauszug beim Petersburger Verlag Bessel veröffentlicht, und in den ersten Nachkriegsjahren wurde sie 1946 auch als Partitur in einer durch M. O. Schteinberg besorgten Neuausgabe im 8. Band der Rimsky-Korsakow-Gesamtausgabe neuverlegt. Es ist diese letztgenannte Ausgabe, die auch die Grundlage der vorliegenden Studienpartitur bildet.

Handelnde Personen
Iwan Semjonowitsch Scheloga, ein Bojar - Baß
Wera Dmitrijewna, seine Ehefrau - Sopran
Nadeschhda Nasonowa, ihre Schwester - Mezzosopran
Fürst Juri Iwanowitsch Tokmakow - Baß-Bariton
Wlasjewna, Nadeschhdas Amme - Alt

Ort und Zeit
Pskow, 1555

Zusammenfassung der Handlung:
Wera ist mit dem wegen Kriegsdienst abwesenenden Bojaren Iwan Scheloga verheiratet. Am Anfang singt sie ihrem neugeborenen Kind ein Wiegenlied. Ihrer Schwester Nadeschda vertraut sie an, daß das Kind nicht von Scheloga stammt, die Mutter weigert sich jedoch, Näheres darüber zu erzählen, außer daß eines Tages, als sie zum Petschersky-Kloster unterwegs war, sie in eine Ohnmacht gefallen sei und sich beim Erwachen im Zelt eines Fremden befand, der sie später auch besucht habe. Kaum hat Wera ihre Erzählung abgeschlossen, kehrt ihr Gatte zurück. Als er sie fragt: “Wessen Kind ist das?” gibt sich Nadeschda als Mutter des Kindes aus, um ihre Schwester zu beschützen. (Bei dem Kind handelt es sich um Olga, das “Mädchen von Pskow”, dessen Vater kein anderer als Zar Iwan der Schreckliche ist.)

Bradford Robinson, 2009

Nachdruck eines Exemplars der Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.

Nikolay Rimsky-Korsakov
(b. Tikhvin nr. Novgorod, 18 March 1844 – d. St. Petersburg, 21 June 1908)

Boyarinya Vera Sheloga
(“The Noblewoman Vera Sheloga”)
Opera in one act (1875-98)
Libretto by the composer after Lev Alexandrovich Mey’s play Pskovityanka

 

Preface
Boyarinya Vera Sheloga, a one-act historical opera based loosely on the early life of Ivan the Terrible, might best be called a spin-off from the huge body of material that accumulated over a period of some thirty years around Rimsky-Korsakov’s first opera project, Pskovityanka (“The Maid of Pskov”). Like the rest of that material, it is based on the historico-didactic play Pskovityanka by Lev Alexandrovich Mey (1822-1862), which attempts to answer the question of why Ivan reduced the great trading city of Novgorod to ashes but spared the neighboring city of Pskov. The answer, according to Mey, is to be found in the fifteen-year-old orphan girl Olga, the eponymous “maid of Pskov,” who, it transpires, is Ivan’s illegitimate daughter by a noblewoman named Vera Sheloga. Faced with this fruit of a youthful love affair, the great Tsar spares the city, but not before several intrigues and insurrections are squelched and Olga herself perishes accidentally in the mêlée.

When Rimsky-Korsakov first essayed an opera project on Mey’s play in 1868, he felt that the first act dealing with Ivan’s early love-affair and Olga’s origins would have made the opera lopsided and ungainly. He therefore skipped the entire first act and began the opera at the point fifteen years later when Ivan’s armies, having sacked Novgorod and butchered its inhabitants, are advancing on Pskov. He then followed the play more or less closely, with some excisions, to its triumphant (for Ivan) conclusion. This version, which he composed at the same time that his roommate Modest Mussorgsky was creating his tormented masterpiece Boris Godunov, was completed in 1872 and, after overcoming several objections from the censors, it was mounted with great success in St. Petersburg’s Mariinsky Theater on 13 January 1873. However, no further stage productions followed

In 1876-7 Rimsky-Korsakov set about fundamentally revising the score of Pskovityanka to help the work’s further dissemination. Part of this revision involved setting the formerly discarded first act of Mey’s drama, now retooled to function as a prologue. As a whole, however, this second version of Pskovityanka left not only the composer but the theaters dissatisfied (“long, uninteresting, and rather heavy” was the composer’s final verdict), and it was never presented on stage. However, Rimsky-Korsakov used this material as a quarry from which he extracted not only a body of incidental music for a performance of Mey’s play (1877) but also, twenty years later, the one-act opera Boyarinya Vera Sheloga.

In 1891-2 Rimsky, by then fully intent on revising all of his early music in light of his later hard-earned mastery of compositional technique, turned yet again to Pskovityanka and produced a third version, which has managed to hold the stage ever since. This version, premièred at St. Petersburg’s Panayevski Theater on 18 April 1895, did not in-clude the prologue, and it is in this three-act form that the opera is usually performed today.

In 1898 Rimsky now turned his attention to the rejected prologue from the second version of Pskovityanka. What then happened is best described in his own words: “In the spring of 1898 I [...] turned my hand to the Prologue to Mey’s Pskovityanka, ‘Boyarinya Vera Sheloga,’ treating it from two points of view: as a separate one-act opera, so to speak, and as a Prologue to my opera. Vera’s narrative I restored, with trifling modification, borrowing its content from the second and unrealized Pskovityanka version of the seventies; thus, too, the end of the act; on the other hand, the entire beginning as far as the cradle song and after it to Vera’s narrative I composed anew, applying the newly mastered methods of vocal music. I retained the former cradle song, but gave it a new revision. The composition of Vera Sheloga went rapidly and soon was finished, together with its orchestration.”
The freshly refurbished Vera Sheloga received its première in Moscow’s Solodovnikov Theater on 27 December 1898. It was considered a success and took on a life of its own as a independent one-act verismo opera. But Rimsky still retained his “two points of view,” and in 1901 it was restored to its original function as a prologue to Pskovityanka. In this form the entire Sheloga /Pskovityanka complex was given at Moscow Imperial Theater on 23 October 1901. Though the production as a whole was a huge success, even launching the opera’s world-wide fame, Rimsky noted ominously in his autobiography that “the Prologue received scant attention.” Vera Sheloga again served as a prologue to Pskovityanka in the rousingly successful St. Petersburg revival at the Mariinsky Theater on 10 November 1903. Thereafter it was dropped from the opera, which, as it turned out, did perfectly well without it. The Western première of Vera Sheloga in its function as prologue to Pskovityanka had to wait until 1978, when it was heard in a concert performance at Radiotelevisione Italiana in Turin. Today Vera Sheloga is occasionally performed as an independent work; it has also been recorded, namely by the Bulgarian RSO under Stojan Angelov and twice by the Bolshoy Orchestra under, respectively, S. Sakharov and Mark Ermler. Immediately after its première the work was published in full score and vocal score by Bessel in St. Petersburg, and shortly after World War II the full score was incorporated into the Rimsky-Korsakov Complete Edition as volume 8, edited by M. O. Shteinberg (1946). It is this latter volume that serves as the basis of the present miniature score.

Cast of Characters
Ivan Semyonovich Sheloga, a nobleman - Bass
Vera Dmitriyevna, his wife - Soprano
Nadezhda Nasonova, her sister - Mezzo-soprano
Prince Yuriy Ivanovich Tokmakov - Bass-baritone
Vlasyevna, Nadezhda’s nurse - Contralto

Setting
Pskov, 1555.

Plot Synopsis
Vera, the wife of Ivan Sheloga, who is absent at the War, is singing her child to sleep. Nadezhda, her sister, learns that the child is not Sheloga’s, but the mother refuses to divulge more than that one day, when on her way to the Pechersky Monastery, she had become faint, and had found herself, on regaining consciousness, in the tent of a stranger, who subsequently visited her at her home. Hardly has she finished her story when her husband returns. When he puts the question, “Whose is that child?” Nadezhda, to shield her sister, proclaims herself the mother. (The child is Olga, the Maid of Pskov, her father is Ivan the Terrible.)

Bradford Robinson, 2009

Reprint of a copy from the Musikabteilung der Leipziger Städtische Bibliotheken, Leipzig.