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Walter Braunfels - Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 für Tenor, Doppelchor und großes Orchester
(19. Dezember 1882 – 19. März 1954)
Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17
Vorwort
Walter Braunfels erhielt seinen ersten Klavierunterricht von seiner Mutter. Ab 1895 studierte er am Hoch'schen Konservatorium in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main und genoss dort eine fundierte Ausbildung in Klavier und Musiktheorie. Anschließend setzte er seine Studien in Wien fort, wo er Klavierschüler von Theodor Leschetizky war und zusätzlich Unterricht in Kontrapunkt erhielt. Weitere musikalische Prägung erfuhr er in München, wo er bei Ludwig Thuille Komposition und bei Felix Mottl Dirigieren studierte. 1909 heiratete Braunfels Berta von Hildebrand, die zuvor mit dem befreundeten Dirigenten Wilhelm Furtwängler verlobt gewesen war. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg konnte Braunfels mit der Oper Prinzessin Brambilla op. 12 und der Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 erste bedeutende Erfolge verzeichnen. Nach seiner Einberufung zum Kriegsdienst im Jahr 1915 kehrte er 1917 heim und konvertierte zum Katholizismus. In den 1920er-Jahren avancierte Braunfels zu einem der meistgespielten Opernkomponisten im deutschsprachigen Raum. Werke wie Die Vögel op. 30 (1920) und Don Gil von den grünen Hosen op. 35 (1925) wurden vom Publikum begeistert aufgenommen. 1923 wurde er als ordentliches Mitglied in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen; zwei Jahre später übernahm er gemeinsam mit dem Dirigenten Hermann Abendroth die Leitung der neu gegründeten Hochschule für Musik in Köln.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten verschlechterte sich seine Lage dramatisch: Aufgrund seiner jüdischen Herkunft – sein Vater Ludwig Braunfels war vom Judentum zum evangelischen Glauben konvertiert – wurde er 1933 seiner Ämter enthoben, 1934 aus der Berliner Akademie der Künste und 1938 aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen. Im selben Jahr wurde ihm jede öffentliche musikalische Tätigkeit untersagt. Braunfels entschied sich gegen das Exil und zog sich an den Bodensee zurück, wo er sich fortan ausschließlich dem Komponieren widmete. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er zwar in seine Position als Direktor der Kölner Musikhochschule wiedereingesetzt, doch seine Werke konnten nicht mehr an die frühere Popularität anknüpfen. 1950 trat er in den Ruhestand.
Die Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 war das erste großdimensionierte Chorwerk des damals 26-jährigen Komponisten. Zwar sind über die Entstehungsumstände keine näheren Details überliefert, doch ist die Uraufführung am 31. Mai 1910 gut dokumentiert: Sie fand im Rahmen des 46. Tonkünstlerfests des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Zürich unter der Leitung von Volkmar Andreae statt. Die anspruchsvolle Tenorpartie sang Ludwig Hess. In der Berner Tageszeitung Der Bund vom 2. Juni 1910 heißt es: "Braunfels' ‚Offenbarung' ist neben dem Reger'schen 100. Psalm das Gewaltigste, was dieses Tonkünstlerfest gebracht hat. Es ist ein Werk von unerhörter dramatischer Kraft und tiefster Wahrheit im Ausdruck. Braunfels arbeitet durchaus modern, aber doch absolut eigenartig. […] Die Wirkung des Werkes auf das Publikum war enorm."
Um das Verständnis für sein Werk zu fördern, veröffentlichte Braunfels in der Allgemeinen Musikzeitung sowie in der Zeitschrift Die Zeit begleitende Analysen, in denen er Aufbau und Themen seiner Komposition erläuterte.
Die Offenbarung Johannis, Kapitel VI ist formal durchkomponiert, lässt sich laut Braunfels jedoch in zwei Hauptteile gliedern, die durch eine Generalpause voneinander getrennt sind. Der erste Teil widmet sich der Öffnung der ersten vier Siegel und der Erscheinung der vier apokalyptischen Reiter. Der zweite Teil wird von monumentalen Chorsätzen geprägt, die auf das Öffnen des fünften und sechsten Siegels reagieren. Das Werk beginnt mit dem unmittelbaren Einsatz des Solo-Tenors, der die Rolle des Erzählers Johannes übernimmt. Braunfels arbeitet mit zahlreichen raffinierten Tonsymbolen, die zentrale Elemente des Textes klanglich illustrieren. So wird etwa das "gläserne Meer, gleich einem Kristall" durch Schläge auf eine gedämpfte Triangel charakterisiert. Bereits kurz darauf erfolgt der erste dramatische Ausbruch: Die Chöre rufen "Komm!", woraufhin die Reiter erscheinen. Der erste Reiter auf weißem Ross wird durch figurenreiche Streicherpassagen angedeutet, die an das Traben eines Pferdes erinnern. Im darauffolgenden Orchestersatz, wie Braunfels selbst in Die Zeit beschreibt, wird dessen Siegeslauf musikalisch entfaltet. Der zweite Reiter, der auf einem roten Pferd erscheint und den Krieg bringt, ist durch eine zunehmend bedrohliche Rhythmik charakterisiert. Hohe Tonrepetitionen der Flöten begleiten den dritten Reiter auf schwarzem Ross, während der vierte – auf einem fahlen Pferd – von Johannes als Tod bezeichnet wird. Der Chor wiederholt dieses Wort unheilvoll "wie ein Echo", so die Anweisung in der Partitur. Ein Marschrhythmus untermalt die Textzeile "und die Hölle folgte ihm nach". Den Abschluss des ersten Teils bilden gewichtige Akkorde im Orchester, die das zuvor Gehörte zusammenzufassen scheinen.
Nach der Generalpause wird das fünfte Siegel geöffnet. In eindringlicher Chromatik klagen die Seelen der Märtyrer, wann der Herr ihr vergossenes Blut rächen werde. Das sechste Siegel schließlich kündigt Naturkatastrophen an: Ein Erdbeben (Tremoli in den tiefen Streichern), eine verfinsterte Sonne, ein blutroter Mond, herabstürzende Sterne (Figurationen der Soloflöte), entweichender Himmel sowie die Bewegung von Bergen und Inseln (wankende Bewegung in den Streichern). Diese apokalyptischen Zeichen münden in Panik: Ein sich steigerndes Orchesterzwischenspiel führt zum finalen Chorsatz, in dem die Menschen sich in Berge und Klüfte flüchten und um Schutz vor dem Zorn des Lamms bitten. Zwei Chöre stehen einander gegenüber: Einerseits die "Verzweifelten", andererseits die "Gefassteren", wie sie Braunfels nennt. Letztere verkünden in choralartigem Tonfall: "Denn es ist kommen der große Tag seines Zornes". Zunächst scheint der Choral im Strom der Verzweiflung zu verstummen, doch in den Schlusszeilen erhebt er sich erneut mit den Worten: "Wer kann den Zorn des Lamms bestehen?" – ein Moment der kollektiven Erhebung, bei dem schließlich beide Chöre gemeinsam mit vollem Orchester und Orgel vereint sind.
Mit diesem Werk reihte sich Braunfels in eine Tradition von Komponisten ein, die die Offenbarung des Johannes vertont haben – darunter Louis Spohr mit Das jüngste Gericht (1812) und Die letzten Dinge (1825/26), Friedrich Schneider mit Das Weltgericht (1820) oder Joachim Raffs Welt-Ende – Gericht – Neue Welt (1879/80). Zugleich ging er mit der einzigartigen Form – der konzentrierten, einsätzigen Anlage – einen eigenen Weg und schuf mit dem rund zwanzigminütigen Werk etwas völlig Neues, eine Art biblische Szene.
Der Beititel "Kapitel VI" verweist auf die wörtlich vertonte Bibelstelle, die Braunfels ohne Umstellungen oder Kürzungen (lediglich die einleitenden Worte von Johannes sind aus früheren Kapiteln entnommen, nämlich Offb 5,1 und 4,6) in Musik setzte – was den Eindruck eines Ausschnitts aus einer größeren Gesamtkonzeption entstehen lässt, etwa einer vollständig vertonten Offenbarung. In seiner spätromantischen, teils an die Grenzen der Tonalität gehenden Tonsprache erweist sich die Offenbarung Johannis, Kapitel VI als Vorläufer von Franz Schmidts rund dreißig Jahre später entstandener Großform, dem Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln.
Matthias Guschelbauer, Wien 2025
Das Aufführungsmaterial ist vom Verlag Boosey & Hawkes, Berlin, zu beziehen.
Walter Braunfels - Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 for tenor, double chorus and large orchestra
(19. December 1882 – 19. March 1954)
Preface
Walter Braunfels received his first piano lessons from his mother. From 1895, he studied at the Hoch Conservatory in his native city of Frankfurt am Main, where he gained a solid education in piano and music theory. He then continued his studies in Vienna, where he was a piano apprentice of Theodor Leschetizky and took lessons in counterpoint. He received further musical training in Munich, where he studied composition with Ludwig Thuille and conducting with Felix Mottl. In 1909, Braunfels married Berta von Hildebrand, who had previously been engaged to his friend and conductor Wilhelm Furtwängler. Even before the First World War, Braunfels achieved his first significant successes with the opera Prinzessin Brambilla op. 12 and the Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 (Revelation of John, Chapter VI). After being called up for military service in 1915, he returned home in 1917 and converted to Catholicism. In the 1920s, Braunfels became one of the most frequently performed opera composers in the German-speaking countries. Works such as Die Vögel op. 30 (1920) and Don Gil von den grünen Hosen op. 35 (1925) were enthusiastically received by audiences. In 1923, he was accepted as a full member of the Prussian Academy of Arts; two years later, together with conductor Hermann Abendroth, he took over as director of the newly founded Academy of Music in Cologne.
When the National Socialists came to power, his situation deteriorated dramatically: due to his Jewish origins – his father Ludwig Braunfels had converted from Judaism to Protestantism – he was stripped of his posts in 1933, expelled from the Berlin Academy of Arts in 1934 and from the Reich Chamber of Music in 1938. In the same year, he was banned from any public musical activity. Braunfels decided against exile and moved to Lake Constance, where he concentrated exclusively on composing from then on. After the end of the Second World War, he was reinstated to his position as director of the Cologne Academy of Music, but his works were unable to regain their former popularity. He retired in 1950.
The Offenbarung Johannis, Kapitel VI op. 17 was the first large-scale choral work by the then 26-year-old composer. Although no further details about the circumstances of its composition are known, the premiere on 31st May 1910 is well documented: it took place as part of the 46th Tonkünstlerfest of the Allgemeiner Deutscher Musikverein in Zurich under the direction of Volkmar Andreae. The demanding tenor part was sung by Ludwig Hess. The Bern daily newspaper Der Bund of 2nd June 1910 stated: "Braunfels' 'Offenbarung' is, alongside Reger's 100th Psalm, the most powerful thing this Tonkünstlerfest has produced. It is a work of unheard dramatic power and deepest truth in expression. Braunfels' work is thoroughly modern, yet absolutely unique. […] The effect of the work on the audience was enormous."
In order to increase understanding of his work, Braunfels published accompanying analyses in the Allgemeine Musikzeitung and in the journal Die Zeit, in which he explained the structure and themes of his composition.
The Offenbarung Johannis, Kapitel VI is formally through-composed, but according to Braunfels it can be divided into two main parts, which are separated from each other by a general pause. The first part is dedicated to the opening of the first four seals and the appearance of the four apocalyptic horsemen. The second part is characterized by monumental choral movements that react to the opening of the fifth and sixth seals. The composition begins with the immediate entry of the solo tenor, who takes on the role of the narrator John. Braunfels works with numerous sophisticated tone symbols that illustrate central elements of the text in sound. For example, the "sea of glass like unto crystal" is characterized by beats on a muted triangle. Shortly afterwards, the first dramatic outburst occurs: the choirs shout "Come!", whereupon the horsemen appear. The first horseman on a white steed is indicated by richly figured string passages reminiscent of a horse trotting. In the following orchestral movement, as Braunfels himself describes in Die Zeit, his triumphal march is musically unfolded. The second rider, who appears on a red horse and brings war, is characterized by an increasingly threatening rhythm. High repetitions of notes in the flutes accompany the third horseman on a black horse, while the fourth – on a pale horse – is called Death by John. The choir repeats this word ominously "like an echo", according to the instructions in the score. A march rhythm underlines the text "and the hell followed with him". The first part concludes with heavy chords in the orchestra, which seem to summarize what has been heard so far.
After the general pause, the fifth seal is opened. In haunting chromaticism, the souls of the martyrs cry to the Lord when he will avenge their blood. Finally, the sixth seal announces natural disasters: An earthquake (tremolos in the low strings), a darkened sun, a blood-red moon, falling stars (figurations in the solo flute), escaping sky and the movement of mountains and islands (wavering movement in the strings). These apocalyptic signs culminate in panic: An intensifying orchestral interlude leads to the final choral movement, in which the people take refuge in mountains and crevices and ask for protection from the wrath of the lamb. Two choirs face each other: On the one hand the "desperate ones", on the other the "more collected ones", as Braunfels calls them. The latter proclaim in a chorale-like tone: "For the great day of his wrath is come". At first, the chorale seems to fall silent in the stream of despair, but in the final lines it rises again with the words: "Who shall withstand?" – a moment of collective uplift in which both choirs are finally united with the full orchestra and organ.
With this work, Braunfels joined a tradition of composers who had set the Book of Revelation to music – including Louis Spohr with Das jüngste Gericht (1812) and Die letzten Dinge (1825/26), Friedrich Schneider with Das Weltgericht (1820) and Joachim Raff's Welt-Ende – Gericht – Neue Welt (1879/80). At the same time, he went his own way with the unique form – the concentrated, single-movement structure – and created something completely new with the approximately twenty-minute work, a kind of biblical scene.
The subtitle "Chapter VI" refers to the Bible passage, which Braunfels set to music without alterations or cuts (only the introductory words of John are taken from previous chapters, namely Rev 5,1 and 4,6) – giving the impression of an excerpt from a larger overall concept, such as a complete setting of the Revelation. In its late Romantic tonal language, which at times pushes the boundaries of tonality, the Offenbarung Johannis, Kapitel VI proves to be the predecessor of Franz Schmidt's large-scale form created around thirty years later, the oratorio Das Buch mit sieben Siegeln.
Matthias Guschelbauer, Vienna 2025
For performance material please contact Boosey & Hawkes, Berlin.
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