Krenek, Ernst

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Krenek, Ernst

Der Sprung über den Schatten

Art.-Nr.: 44 Kategorie:

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Ernst Krenek

Der Sprung über den Schatten op. 17 (1923)

Komische Oper in drei Akten (zehn Bildern)
Text und Musik von Ernst Krenek

(geb. Wien, 23. August 1900; gest. Palm Springs, 2. Dezember 1991)

Vorwort
Während seiner langen, abwechslungsreichen und außerordentlich produktiven Karriere durchlief Ernst Krenek viele Kompositionsstile und ästhetische Haltungen – vom ungezügelten atonalen Expressionismus seiner Jugend bis zum energischen Eintritt der Aleatorik in der Spätzeit, wobei er sich nicht einmal davon abhalten ließ, sich an Tin Pan Alley-Songs zu versuchen. Mit ungewöhnlicher Leichtigkeit begabt, schuf er ein musikalisches Oeuvre, das allein dem Umfang nach keinen Vergleich mit den fruchtbarsten Komponisten des 20. Jahrhunderts – wie etwa Darius Milhaud oder Bohuslav Martinu – zu scheuen braucht, diese jedoch an Vielfalt und Vielfalt weit übertrifft. Seine Schriften über Musik und Literatur, aber auch über Psychologie und Soziologie, zeigen ihn als einen der scharfsinnigsten musikalischen Köpfe des 20. Jahrhunderts und führten zu literarischen Freundschaften mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Rilke, Adorno oder Thomas Mann. Schon vor dem Hochschulabschluß sicherten ihm seine I. und II. Symphonie (1921-22) sowie das I. Streichquartett (1921) schnell einen Platz an vorderster Front unter den deutschen Nachkriegskomponisten. Ausgestattet mit einem Exklusivvertrag mit der Wiener Universal Edition kehrte er umgehend dem akademischen Studium den Rücken und schlug die Laufbahn eines freischaffenden Komponisten ein, wobei er bald neben Hindemith und – etwas später – Kurt Weill zu den drei führenden deutschen Komponisten seiner Generation gehörte.

Im Jahre 1923, inmitten von Inflation und Unruhen, die schließlich zum Bierhallenputsch führten, entschloß sich Krenek, als Nachfolge seiner noch nicht aufgeführten Operntragödie Die Zwingburg (1922) eine komische Oper in Angriff zu nehmen. Das Milieu – ein tyrannischer Duodezfürst, ein unterdrücktes Volk, eine Atmosphäre höfischer Intrigen – war zwar beinahe identisch, diesmal jedoch sollte das Werk einen betont satirischen, fast operettenhaften Zug tragen. Wie Krenek später bemerkte: «Es handelt sich um eine komische Oper mit teilweise satirischer Tendenz, die sich gegen die Verirrungen der modernen Gesellschaft (Korruption, Esoterik, Snobismus, Tanzmanie usw.) richtet, sowie mit einer Musik, die seriös behandelte atonale Elemente mit einer beabsichtigten Banalität verbindet.» Wie bei der Zwingburg verfaßte Krenek selber das Libretto, stellte sich jedoch der schwierigen Aufgabe, das Ganze in Versreimen zu gestalten. Die Wörter flossen förmlich aus seiner Feder; rückblickend stellte er fest: «Das Libretto schien schließlich ein ausgesprochenes Talent zu offenbaren, dessen ich mir überhaupt nicht bewußt war, während ich daran arbeitete.» Fortan wird er alle seine Opernlibretti selber verfassen.
Als Titel und zugleich als Ausgangspunkt des neuen Werkes wählte Krenek das deutsche Sprichwort: «Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen,» d.h. jeder hat seine natürlichen Grenzen, die er nicht zu überwinden vermag. Wie der Titel Der Sprung über den Schatten jedoch bereits verrät, lassen sich diese Grenzen doch mit einem «Schattensprung» überwinden – eine Wortschöpfung, die auch auf den Begriff «Seitensprung» anspielt und dadurch die neue Oper eindeutig in die Kategorie der Sexkomödie verweist. Zu dieser dramaturgischen Grundstruktur fügte Krenek eine hochgradig komplizierte Handlung hinzu, die aus verschiedenen Quellen gespeist wird: mehrfache Verkleidungen und Verwechslungen (eine Übernahme aus der Operettenkunst), ein «enthemmender» Hauptcharakter, der die Gesellschaft aufmischt und von ihren Zwängen befreit (eine weitere Übernahme aus der Operettenkunst) sowie eine Vielzahl aktueller Anspielungen etwa auf die Revolution, die Scheidung, den Sturz der Adelsschicht, die Psychoanalyse (in der Gestalt der Hypnose), die Esoterik (in der Gestalt von spirituistischen Sitzungen), moderne Detektivromane und den allgemeinen Eindruck einer Gesellschaftsordnung, die aus den Fugen gerät. Die Vertonung teilt sich in zwei gegensätzliche Bereiche, ohne daß stilistisch ein gemeinsamer Nenner zu finden wäre: eine «aggressive atonale Sprache» (Krenek) und eindeutige Übernahmen aus der synkopierten Tanzmusik des damaligen Deutschlands. Bei letzterem handelt es sich um den allerersten Auftritt des «Jazz» in der Bühnenmusik Kreneks; und wenn diese Musik mit dem amerikanischen Original auch nur wenig gemein hat (Deutschland war damals vom internationalen Schallplattenvertrieb abgeschnitten, kein einziger amerikanischer Jazzmusiker trat vor 1924 in Deutschland auf), so stellte sie doch einen deutlichen Fingerzeig auf die künftige Entwicklung der deutschen Opernkunst dar. Die Partitur strotzt vor musikalischen Querverweisen: ein Zitat aus der Oper Die Gezeichneten von Franz Schreker, eine Anspielung auf den Anfang von Figaros Hochzeit, eine Autohupe, ein in biedere Tanzmusik verwandelter Auszug aus der Marseillaise, ein Foxtrott mit nur unvollkommen begriffenen «Blue notes» (vgl. Nr. 8) sowie eine vollständige Revuenummer mit dem aus heutiger Sicht bedauerlichen Titel «Lied des Niggerboy». Die vielen unaufgelösten stilistischen Kontraste – wie Krenek später zugab – führten die Oper dicht an die Grenze zum Surrealismus.

Die Uraufführung fand am 9. Juni 1924 im Frankfurter Opernhaus unter der Leitung von Ludwig Rottenburg und in einer Inszenierung des damaligen Enfant terrible der Weimarer Opernwelt Walter Brügmann statt. Obwohl der Erfolg – verglichen mit den späteren Bühnenwerken Kreneks – nur mäßig ausfiel, sorgte die neue Oper in den richtigen Kreisen für Aufsehen und dürfte zu Recht als Ausgangspunkt der neuen Gattung «Jazzoper» bezeichnet werden, die sich später in Werken von Hindemith (Neues vom Tage), Kurt Weill (Royal Palace und Der Zar läßt sich photographieren) und den eigenen Beiträgen Kreneks (Schwergewicht, Das Leben des Orest und vor allem dem spektakulär erfolgreichen Jonny spielt auf) niederschlagen sollte. Die wohl wichtigste Wiederaufnahme fand am 21. Mai 1927 in Leningrad statt, als Der Sprung über den Schatten als erste Oper der europäischen Moderne in der Sowjetunion zur Aufführung gelang. Der Erfolg war überwältigend: Die Oper wurde erst nach 42 Aufführungen abgesetzt und in der sowjetischen Presse heiß diskutiert («Mit einer Beobachtungsgabe, Leichtfüßigkeit und Unmittelbarkeit, die einem Mozart würdig wären, porträtiert Krenek hier eine klug ausgesuchte Gruppe von Menschen, die eine gesunde Lebenseinstellung verloren haben und lediglich nach sinnlicher Aufregung à tout prix suchen»). Zu den begeistertsten Zuschauern gehörte sogar Paul Hindemith, der sich damals auf einer Rußlandtournee befand.

Rückblickend erschien Der Sprung über den Schatten dem Komponisten als «Vorstudie» zu Jonny spielt auf. Tatsächlich liegen die vielen Parallelen auf der Hand: eine gequälte Künstlerfigur, die in expressionistischen Tönen musikalisch nachgezeichnet wird (Goldhaar/Max), eine hochwohlgeborene Gesellschaftsdame, die nach einem Liebesabenteuer sucht (Leonore/Anita), ein ebenfalls hochwohlgeborener Hahnrei (Kuno/Daniello), eine sexuell befreite Zofe (Odette/Yvonne) und vor allem der «enthemmende» Außenseiter (Dr. Berg/Jonny). Die Figur des Goldhaar – wie der Komponist Max in Jonny – zeigt deutlich autobiographische Züge, wie Krenek später etwas verschämt zugab; und wie bei Jonny endet das Werk mit einer triumphalen Tanzszene, als die handelnden Personen freudig – jedoch erfolglos – ein allerletztes Mal tänzerisch versuchen, um «über den eigenen Schatten zu springen».

Handelnde Personen
Kuno, regierender Fürst (Baß)
Prinzessin Leonore, seine Frau (Sopran)
Gräfin Blandine, ihre Kammerfrau (Mezzosopran)
Odette, ihre Zofe (Sopran)
Dr. Berg, Hypnotiseur (Bariton)
Marcus, Privatdetektiv (Tenor)
Laurenz Goldhaar, ein Dichter (Tenor)
Ein Kammerdiener des Fürsten (Tenor)
Ein Kavalier (Tenor)
Der Hauptmann der Schloßwache (Baß)
Vier Richter (2 Tenöre, 2 Bässe)
Einer aus der Menge (Tenor)
Ein Kellner (Sprecherrolle)
Ein Kämmerer, ein Advokat (Stumme Personen)

Chor: Besucher der Séancen bei Dr. Berg, Gäste eines Maskenfestes, Zuhörer im Gerichtssaal

Ort der Handlung: Ein kleine Residenzstadt
Zeit der Handlung: Gegenwart

 

Zusammenfassung der Handlung
(aus: Wolfang Rogge. Ernst Kreneks Opern. Spiegel der Zwanziger Jahre. Möseler Wolfenbüttel/Zürich 1970, S. 16-17)

1. Akt
Der Privatdetektiv Marcus, Spezialist für Aufdeckung von Ehebrüchen, erhält von Seiner Hoheit, dem regierenden Fürsten Kuno, telefonisch den Auftrag, seine Frau, Prinzessin Leonore, zu beschatten. Besonders ihre häufige Teilnahme an den Séancen des Hypnotiseurs Dr. Berg sind dem Fürsten verdächtig. Dr. Berg, der als Marcus’ Freund dem Telefongespräch zugehört hat, bietet sich an, die Rolle des Detektivs zu übernehmen: eine willkommene Gelegenheit, sich der Prinzessin Leonore zu nähern. Aber auch Laurenz Goldhaar, ein verhinderter Dichter voller Hemmungen, empfindet Zuneigung zu Leonore.

Eine Séance findet bei Dr. Berg statt. Die Prinzessin ist unschlüssig, ob sie auf ein für den Abend angesetztes Künstlerfest gehen soll, wo sie den Dichter Goldhaar zu finden hofft. Dr. Berg animiert sie hypnotisch, ihren Schatten zu überspringen und hinzugehen.

Das Künstlerfest wird eingeleitet von einer bewegten Chorszene. Hier erklingt das Lied vom Niggerboy: «Im freien Land Amerika lebt’ einst ein schwarzer Niggerboy, der tanzte fern und steppte nach und tanzte stets aufs neu’.» Leonore findet Goldhaar unter den Masken heraus, vermeidet aber, sich zu erkennen zu geben. Goldhaar, ahnungslos, sucht seine Angebetete weiter. Fürst Kuno, gleichfalls auf Abwegen, tanzt mit Odette, die ihn aber an der Nase herumführt, als er den atemberaubenden Jazz-Rhythmen nicht standhält. Die Kammerzofe Blandine sucht ein Rendezvous mit Dr. Berg, den sie jedoch mit dem Dichter Goldhaar verwechselt. Leonore wendet sich enttäuscht ab. Blandine bestellt Goldhaar als den vermeintlichen Dr. Berg um Mitternacht ans Brückentor des Schlosses. Kennzeichen: ein kleine Rose.

2. Akt
Fürst Kuno kommt nach Hause, vom Tanz erschöpft. Ihm wird hinterbracht, daß seine Frau gleichfalls auf dem Fest war. Dem vermeintlichen Detektiv (Dr. Berg statt Marcus) macht er Vorwürfe, nicht auf Dr. Berg achtgegeben zu haben. Da auch Blandine dem vermeintlichen Detektiv ihre Liebe zu dem ihr unbekannten Dr. Berg preisgibt, gerät Dr. Berg in eine potenzierte Doppelrolle. Zu allen Überfluß bittet sie ihn auch noch, ihren Hypnotiseur (scil. Laurenz Goldhaar) zur verabredeten Zeit ins Schloß zu holen. Fürst Kuno, der dem Gespräch gelauscht hat, beauftragt den Detektiv, diese Person in die Falle zu locken.

Als Goldhaar vor dem Brückentor erscheint und schon seinen Schattensprung bereuen möchte, wird er von Detektiv überredet, ins Schloß zu kommen. Dort gerät in gegenseitiger Verwechslung während der Dunkelheit jeder der Schattenspringer an jeden, bis schließlich Goldhaar vom Schloßhauptmann als der vermeintliche Hypnotiseur verhaftet wird.
3. Akt
Goldhaar bejammert sein Los im Gefängnis, aber Leonore verschafft sich Zugang zu ihm und tröstet ihn. Alsbald wird dem Dichter Goldhaar als dem vermeintlichen Hypnotiseur der Prozeß gemacht. In einer karikierten Prozeß-Szene übernimmt der verkleidete Dr. Berg die Rolle des Advokaten. Als aber das Gericht beschließt, den Privatdetektiv als Zeugen vorzuladen, muß Dr. Berg aufs Ganze gehen. Er beantragt die Scheidung des Fürstenpaares. Nur so könnten der Skandal und die bevorstehende Revolution noch verhindert werden. Doch das Unglück ist nicht aufzuhalten. Das Volk begehrt auf.

Die Scheidung ist vollzogen. Der Fürst und Odette haben zusammengefunden, und Leonore bekommt ihren Dichter Goldhaar, der allerdings noch im Gefängnis sitzt. Um eine letzte Chance für sich zu schaffen, läßt Dr. Berg die Republik ausrufen. So glaubt er den Weg zu Leonore frei, mußt aber erfahren, daß sie soeben mit dem Dichter Goldhaar abgereist ist.

Als «Deus ex machina» tritt Marcus, der wahre Detektiv, in die Szene. Die Doppelrolle Dr. Bergs löst sich auf. Er wird vom Volk zum Präsidenten ausgerufen. Marcus verkündet die Moral von der Geschicht: «Du siehst, kaum glaubten sie, den Sprung vollführt zu haben, schon ist der alte Schatten da; sie werden lustig weitertraben.» Zum Abschluß führen alle Beteiligten einen Grotesktanz aus, indem sie vergeblich versuchen, ihren Schatten zu überspringen.

Bradford Robinson, 2006

For performance material please contact the publisher Universal Edition, Wien. Reprint of a copy from the Universal Edition, Wien.

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